Hugo Chávez Frías, der Präsident von Venezuela, ist am Dienstag, dem 5. März, um 16.25 Uhr lokaler Zeit an Krebs gestorben.
Millionen trauern um ihn, weil Chavez für viele Venezolaner*innen und Unterdrückte auf der ganzen Welt schon zu Lebzeiten zu einer Symbolfigur geworden ist. Als Marxist*innen können wir dabei freilich nicht stehen bleiben. Der Tod von Hugo Chavez wirft schließlich auch die Frage auf, wie die weitere Zukunft der venezolanischen Revolution aussehen soll – und damit auch die Frage nach einer kritischen Betrachtung ihrer inneren Widersprüche wie auch der Politik des verstorbenen Präsidenten. Die Maxime, auszusprechen, was ist, ist auch in dieser Situation angemessen und notwendig.
Die Imperialisten über Chavez
Natürlich wird man im Weißen Haus und dem Kongress in den USA nicht unglücklich, ja mehr oder weniger klammheimlich zufrieden sein. Seit seiner Wahl zum Präsidenten von Venezuela 1998 war Chávez ein großer Dorn im Auge der Herrschenden in den USA, genauso wie für die reichen Geschäftsleute und Großgrundbesitzer in Lateinamerika.
Die wiederholten Verurteilungen von Chávez durch diese Herren und Damen als „Diktator“ sollte nichts weiter als ein Lachen hervorrufen. Dieselben Leute haben über Jahrzehnte geholfen, Diktatoren vom Schlage Pinochet und Mubarak einzusetzen und zu unterstützen. In Wahrheit hat Chávez wiederholt Wahlen mit einer überzeugenden Mehrheit gewonnen.
Der Grund dafür ist ziemlich einleuchtend. Seine „bolivarische Revolution“ hat bedeutende soziale Reformen für die Armen gebracht. Eine Rarität in einer Ära, in der „Reform“ sonst das exakte Gegenteil davon bedeutet: die Zerschlagung von sozialen Leistungen und öffentlichem Eigentum im Interesse einer winzigen Elite von Großkapitalisten.
Venezuela ist reich an Bodenschätzen. Über Jahrzehnte war dieser Reichtum allein der reichen Elite des Landes vorbehalten. Chávez hat die Ölindustrie wieder unter die Kontrolle des Staates gebracht und von den Einnahmen sogenannte „misiones“ finanziert, die den einfachen Menschen Gesundheitsversorgung, Ausbildung, Arbeit und Zugang zu Kultur ermöglicht haben. Das war die Grundlage für seinen Massenanhang. Diese Reformen haben in der Tat die Lebensbedingungen von Millionen verbessert – auch wenn wir beachten müssen, dass durch den Anstieg des Ölpreises während der Amtszeit von Chávez auf das Fünffache dieser Reformen umgesetzt werden konnte, ohne den Wohlstand der kapitalistischen Klasse an sich angreifen zu müssen.
In ganz Lateinamerika hat seine Verachtung der USA ein enthusiastisches Echo gefunden und andere Regierungen – Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador und die Kirchners in Argentinien – ermutigt, eine unabhängigere Gangart gegenüber den USA einzuschlagen. Dazu wurden sie materiell durch das ölreiche Venezuela ermutigt, aber auch durch den kometenhaften Aufstieg von China als Abnehmer und Investor. Die totale US-Herrschaft in Lateinamerika wurde massiv unterhöhlt und Hugo Chávez wird über Jahre hinweg stellvertretend für das erhöhte Selbstbewusstsein stehen, das die Menschen auf dem Kontinent dadurch erhalten haben.
War Chávez ein Sozialist?
Wenn damit gemeint ist, dass er soziale Reformen durchgeführt hat, dass er die Reichen zum Quietschen gebracht hat, weil sie ein größeres Stück vom Kuchen abgeben mussten, war er ein Sozialist. In einer Zeit, in der die Sozialdemokratie in Europa von Blair, Schröder, Hollande oder gar Steinbrück repräsentiert wurde und wird und „Kommunismus“ von Hu Jintao gemacht wurde, war die Suche nach einem(r) Sozialist*in in einer Regierung eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Deshalb wurden Millionen Arbeiter*innen und Jugendliche von Chávez´ Reden über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts beeindruckt.
Aber nicht alles, was glänzt ist auch Gold! Während Chávez viel über Sozialismus und Revolution geredet hat, meinte er entschieden nicht eine Revolution, die durch die Arbeiter*innenklasse selbst gegen das venezolanische als auch das ausländische Kapital (ob aus den USA, Europa oder China) ausgeführt wird. Sein „Sozialismus“ war eine moderate Umverteilung, aber er hat vor dem Privateigentum an den Produktionsmitteln Halt gemacht.
Ebenso stand sein Regime, obwohl eine leicht bewaffnete Miliz nach den Putschversuchen 2002/03 aufgebaut wurde, immer noch auf dem Boden des Gewaltmonopols des Militärs und der Polizei. Wenn Arbeiter*innen zu „unautorisierten“ Aktionen schritten, das heißt Streiks und Besetzungen, hat er nicht gezögert, diesen mit Polizeikräften zu begegnen und die Eigentumsverhältnisse zu schützen.
Trotz aller Rhetorik, trotz des Lobes für Marx und Lenin, Guevara, ja selbst Leo Trotzki, trotz aller Volksmilizen und -komitees, trotz seiner Behauptung, dass eine sozialistische Revolution stattfinden würde, blieb Venezuela ein kapitalistisches Land, die Produktionsmittel verblieben in der Hand der ausbeutenden Klasse und des kapitalistischen Staates.
Also: Was ist der Chavismus? Es ist eine Version des lateinamerikanischen linken Populismus im 21. Jahrhundert, eine Ideologie und ein Programm, die die Bedingungen der Armen verbessern wollen, ohne die Wurzeln des Kapitalismus und das Privateigentum an allen großen Produktionsmitteln und der Verteilung anzutasten.
In den 30er Jahren hat Trotzki ähnliche Regime als „linken Bonapartismus“ oder „Bonapartismus einer besonderen Art“ bezeichnet. Generell ist der Bonapartismus ein Regime, das sich auf ein prekäres Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Klassen stützt, wo keine der Hauptklassen ein stabiles, politisches Regime durchzusetzen vermag. Es ist kein Zufall, dass solche Herrschaftsformen oft als Folge von revolutionären Aufschwüngen, die jedoch nicht zum Abschluss kommen, oder als Resultat von Konterrevolutionen entstehen.
Der Staatsapparat und das Militär sind dabei – oft auch verbunden mit Sektoren der „Mittelklassen“ der Gesellschaft (Bauernschaft, verschiedene Schichten des Kleinbürgertums) – die eigentliche Basis des Regimes und spielen eine vermittelnde, scheinbar „über den Klassen“ stehende Rolle. Sie geben vor, für „das Volk“ zu regieren, die Interessen aller Klassen auszugleichen und „harmonisch“ zu befriedigen.
Meist ist das ein rechtes Phänomen, das die Organisationen und Kämpfe der Arbeiter*innenklasse zerschlägt. Aber unter bestimmten Umständen kann es eine nationalistische, anti-imperialistische, „linke“ Form annehmen. Das bedeutet, dass es sich immer noch auf die Armee stützt, aber eher nicht auf das Kommando der alten Elite, sondern auf nationalistische Generäle und jüngere Offiziere. Vor allem bedeutet es eine Mobilisierung der Massen, der Arbeiter*innen, Bäuer*innen und der städtischen Armut, um das Regime gegen die lokalen Eliten und ihre imperialistischen Unterstützer zu verteidigen. Zugleich versuchen solche Regime, Sektoren der besitzenden Klassen einzubinden, ja vertreten deren Interessen gegen „zu weit gehende“ Forderungen nach Enteignung oder Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter*innen. Die enge Verbindung mit dem letztlich nach wie vor bürgerlichen Staatsapparat bedeutet auch, dass sich weite Teile der Führung der Bewegung mit der alten Elite oder mit neu entstehenden verbinden. So führt Chavez eben nicht nur Reformen durch, sondern es gedieh auch eine „bolivarische Bourgeoisie“, oft Boli-Bourgeoisie genannt.
Oft, wie auch im Falle von Chávez, werden solche Regime von charismatischen „Caudillos“ geführt, die aus einfachen Verhältnissen stammen; Chávez´ Eltern waren arme, ländliche Lehrer. Das ermöglicht es viel glaubhafter, die Vermittlerrolle zwischen oben und unten zu spielen – und so dem Regime einen zusätzlichen Nimbus von „sozialer Gerechtigkeit“ und „Überparteilichkeit“ zu geben.
Natürlich hassen die Imperialisten und ihre Agenten in der lokalen Elite solche Persönlichkeiten und erachten sie als „vulgär“ und „respektlos“. Demzufolge gab es auch gegen Chávez mehrere Versuche, ihn zu stürzen. Der größte Versuch war der Putschversuch von 2002, der nur durch eine unglaubliche Massenmobilisierung und einen Aufruhr von jungen Offizieren in den unteren Rängen der Armee verhindert werden konnte.
Diese authentisch revolutionäre Antwort der Massen schwächte die alte Staatsmacht und machte den Weg für weitere Reformen frei. Weil das die Macht der alten parlamentarischen Cliquen und der Justiz gebrochen hat, die alle aus der Elite stammen, haben diese und ihre Unterstützer aus den USA die Regierung zu einer „Diktatur“ erklärt.
Leider haben das Prestige von Chávez und die Abwesenheit einer mächtigen, unabhängigen Arbeiter*innenpartei mit einem echten antikapitalistischen Programm dazu geführt, dass die Revolution nicht bis zu den Wurzeln des Kapitalismus fortgeschritten ist. Die Schwäche der venezolanischen Revolution war deren Vertrauen in Chávez und die reformistische, populistische Zwangsjacke, in welche die „Revolution“ von ihm gesteckt wurde.
Ebenso verblieb auch die Partei, die er aufgebaut hat, die PSUV, unter bürokratischer Kontrolle. Die PSUV ist ein Partei, die die inneren Widersprüche des Regimes zum Ausdruck bringt. Einerseits hat sie eine Massenbasis unter den Armen und auch großen Teilen der Arbeiter*innenklasse – anderseits ist sie auch die Partei der Bürokratie und von Teilen der Kapitalist*innenklasse. Sie ist eine „Volkspartei“ oder „Volksfrontpartei“ im eigentlichen Sinn des Wortes; das heißt, dass letztlich die Interessen der Lohnabhängigen und Armen den Interessen der besitzenden Klassen, von „einheimischen“ Unternehmern und Großgrundbesitzern und ihrem Staatsapparat untergeordnet werden. Es ist daher kein Wunder, dass sich die PSUV und der bolivarische Staatsapparat immer wieder auch gegen Ansätze der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse richten mussten, bis hin zur offenen Unterdrückung.
Internationalismus?
Der Internationalismus ist der Lackmus-Test eines echten revolutionären und sozialistischen Programms. Hugo Chávez erhob Anspruch auf eine internationale, sozialistische Politik. Einmal rief e sogar zur Gründung einer Fünften Internationale auf (ohne dieser Ankündigung freilich konkrete Schritte folgen zu lassen) und behauptete, Trotzkis Theorie der permanenten Revolution zu vertreten. In Wirklichkeit bestand sein Internationalismus darin, dass er verschiedenen angeblich „antiimperialistischen“ Regimen den Hof gemacht hat, kapitalistische Staaten, die in Rivalität mit den USA stehen, um sie als Verbündete für Venezuela zu gewinnen.
So hat er von ganzem Herzen Mahmoud Ahmedinedschad und dessen Repression gegen die „grüne Revolution“ unterstützt, genauso wie Muammar Gadaffi und dessen blutigen Versuche, die libysche Revolution zu zerschlagen. Eine seiner letzten Aussagen war die Unterstützung für den syrischen Schlächter Bashar al Assad. „Wie könnte ich die syrische Regierung nicht unterstützen?“, fragte er. „Sie ist die legitime Regierung von Syrien. Wen sollten wir unterstützen, die Terroristen?“
Ausblick
Werden der Chavismus und die bolivarische Revolution ihn überleben? Mit Sicherheit werden die Parteien der lokalen Eliten und ihre Unterstützer im Weißen Haus alles dafür tun, die Macht zurückzuerobern und die Reformen rückgängig zu machen, die „Venezuela ruiniert“ hätten. Die Arbeiter*innenbewegung und alle revolutionären Sozialist*innen müssen solche Versuche entschieden in einer Einheitsfront mit den chavistischen Kräften zurückschlagen!
Aber das bedeutet nicht, dass sie die Führung von Maduro, dem designierten Nachfolger von Chavez, und der bolivarischen Bürokratie akzeptieren sollen. Es bedeutet, alles dafür zu tun, die Massenmobilisierung gegen die Rechte und gegen Kapitalismus und Imperialismus wiederzubeleben. Beginnend mit der Verteidigung der Errungenschaften der Massen, die unter Chávez erreicht wurden, muss der Kampf zur authentischen, selbst-organisierten und permanenten Revolution werden, mit dem Ziel, die Macht der Arbeiter*innen und Bäuer*innen zu errichten, die sich auf Räte stützt und von einer genuin revolutionären Partei geführt wird.
Nur eine solche Entwicklung kann die authentischen und berechtigten Hoffnungen und Bestrebungen der Massenanhängerschaft von Hugo Chávez erfüllen. Gleichzeitig wird es ihnen die Illusionen in jeden großen Führer nehmen, ob tot oder lebendig.