Dilara Lorin, Arbeiter:innenmacht-Infomail 1294, 6. Juni 2025
Dilara Lorin, Arbeiter:innenmacht-Infomail 1294, 6. Juni 2025

Das Statement des inhaftierten Abdullah Öcalan am 27. Februar, in dem er die PKK auffordert, einen Friedensprozess einzugehen und die Waffen niederzulegen, hat bei vielen Kurd*innen Unbehagen und Ungewissheit ausgelöst. Und das nicht zu Unrecht, denn die aktuelle politische Lage in der Türkei und in Syrien gibt wenig Anlass zur Hoffnung auf ein Ende der nationalen Unterdrückung.
Demokratische Entwicklung?
Nicht so für Öcalan. Während in der Türkei der autoritäre, bonapartistische Charakter des Regimes seit der Festnahme des CHP-Präsidentschaftskandidaten İmamoğlu und der Festnahme Hunderter Demonstrant*innen noch deutlicher hervortritt und kurdische Abgeordnete und Aktivist*innen weiter massenhaft die Gefängnisse bevölkern, geht für den PKK-Führer die Sonne der Demokratie auf. So heißt es in seiner Erklärung:
„Es gibt keine Alternative zur Demokratie bei der Verfolgung und Verwirklichung eines politischen Systems. Der demokratische Konsens ist der grundlegende Weg. Im Einklang mit dieser Realität muss eine Sprache der Epoche des Friedens und der demokratischen Gesellschaft entwickelt werden.
Der Aufruf von Herrn Devlet Bahçeli (Vorsitzender der rechtsextremen MHP), zusammen mit dem vom Herrn Präsidenten geäußerten Willen und den positiven Reaktionen der anderen politischen Parteien darauf, hat ein Umfeld geschaffen, in dem ich einen Aufruf zur Niederlegung der Waffen mache, und ich übernehme die historische Verantwortung für diesen Aufruf.“
Mit der türkischen Realität hat das wenig bis nichts zu tun. Die PKK folgt ihrem Führer trotzdem. Auf dem 12. Kongress vom 5. bis 7. Mai verkündete sie die Niederlegung der Waffen sowie die Auflösung der PKK und kündigte an, nun einen neuen Weg gehen zu wollen. Der Kampf für die kurdische Gleichberechtigung innerhalb der bestehenden Staaten und für den Sozialismus solle fortan ausschließlich mit friedlichen, demokratischen Mitteln geführt werden.
Auch wenn die vollständige Auflösung erst geschehen solle, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, vor allem, dass Öcalan den Prozess für die kurdische Seite führen und lenken kann:
„Die Entscheidung unseres Kongresses, die PKK aufzulösen und die Methode des bewaffneten Kampfes zu beenden, schafft eine starke Grundlage für dauerhaften Frieden und eine demokratische Lösung. Die Umsetzung dieser Entscheidungen erfordert, dass Rêber Apo den Prozess führen und lenken kann, das Recht auf demokratische Politik anerkannt wird und eine umfassende, rechtsverbindliche Absicherung gewährleistet ist.“
Auch wenn die Erfüllung dieser Bedingung ungewiss ist, so stellt der Beschluss einen gewaltigen Schritt dar, der die Ungewissheit vieler weiter verstärkt – auch wenn er Freudentränen bei jenen Familien und Müttern auslöste, deren Kinder als Freiheitskämpfer*innen in den Bergen lebten und nun wieder in greifbare Nähe rücken.
Die ideologische Neuausrichtung der PKK – der Weg bis heute
Zunächst muss gesagt werden, dass dies nicht der erste Versuch der PKK ist, einen Friedensprozess innerhalb der Türkei zu erreichen. Neben zahlreichen Waffenstillständen, die häufig von der türkischen Armee, aber auch durch Maßnahmen der türkischen Regierung gebrochen wurden, verkündete die PKK schon einmal ihre Auflösung sowie eine Neuformatierung der Organisation.
Der größte Einschnitt in ihrer Geschichte erfolgte mit der Inhaftierung des damaligen Führers Abdullah Öcalan und der politischen Neuausrichtung der PKK. Seit ihrer Gründung hatte sich die PKK als „sozialistische Arbeiter*innenpartei“ definiert, die ihr Ziel mit revolutionären Mitteln verfolge. Genauer betrachtet war sie eine stalinistische, kleinbürgerlich-nationalistische Partei. Anders als große Teile der kemalistisch geprägten türkischen Linken erkannte die PKK die enorme Bedeutung der nationalen Unterdrückung des kurdischen Volkes und des Kampfes um dessen Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Schaffung eines kurdischen Staates. Zugleich bleibt sie aber dem stalinistischen Etappenmodell tief verhaftet. In Kurdistan würde keine sozialistische Revolution, sondern eine demokratische, nationale anstehen. Die PKK müsse eine führende Rolle einnehmen, die Verhältnisse wären aber für eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse noch nicht reif, sondern Kurdistan müsse noch eine ganze Phase der kapitalistischen Entwicklung durchlaufen. Erst dann wäre das Land „reif“ für den Sozialismus.
Politisch bedeutete das, dass die PKK immer ein Bündnis mit dem „nationalen“ Kleinbürger*innentum und der nationalpatriotischen kurdischen Bourgeoisie anstrebte, auch wenn diese und vor allem die Großgrundbesitzer*innen in der Realität immer ein Bündnis mit dem türkischen Staat gegen die PKK vorzogen.
Hinzu kommt, dass die PKK nicht den Massenkampf der Arbeiter*innen und Bäuer*innen als zentrales Kampfmittel verstand, sondern die Guerillastrategie, eine Kampfform, die ihrer kleinbürgerlich-nationalistischen Ausrichtung entsprach.
Mit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ geriet nicht nur die PKK in die Defensive. Hinzu kam, dass immer deutlicher wurde, dass die Guerilla zwar den türkischen Staat binden, nicht jedoch schlagen konnte.
Die PKK befand sich somit schon vor Öcalans Festnahme in einer strategischen Krise und auf der Suche nach Neuorientierung. Ironischer Weise beschleunigte gerade der heftigste Schlag gegen die Spitze der Organisation eine strategische Neuausrichtung. Im Gefängnis auf Imrali und inspiriert von Schriften des libertären Theoretikers Murray Bookchin verabschieden sich Öcalan und mit ihm die PKK vom Ziel eines unabhängigen Kurdistan hin zur Ideologie des demokratischen Konföderalismus. Diese Ideologie versteht sich als „Zwischenphase“ zwischen Kapitalismus und einer klassenlosen Gesellschaft und bettet die kurdische Frage innerhalb bestehender Nationalstaaten in ein Konzept mit autonomen Rechten ein.
Mit diesem programmatischen Wandel wurde deutlich: Die revolutionäre Mobilisierung der Unterdrückten gegen den Staat wird als „utopisch“ verworfen. Stattdessen wurde sie durch die tatsächlich utopische Vorstellung ersetzt, den Staat langfristig durch demokratische Reformen überflüssig zu machen – ganz so, als ob die bestehende „Demokratie“, die in der Türkei ohnedies eine Farce ist, einen klassenübergreifenden Charakter hätte. Daraus folgte ein stärkerer Fokus auf graduelle Verbesserungen, die nicht zwangsläufig in direkten Widerspruch zur bestehenden staatlichen Ordnung geraten.
Dies spiegelt sich auch im Programm wider: Der demokratische Konföderalismus greift nicht aktiv die existierenden Unterdrücker*innenstaaten an, ein Recht auf staatliche Loslösung unterdrückter Nationen kennt er nicht, ja, Öcalan verwirft es offen. Die Klassenverhältnisse greift er erst recht nicht aktiv an, sondern legt den Fokus auf gesellschaftliche Teilhabe, Freiräume sowie die Rechte von Minderheiten – Aspekte, für die es sich zweifellos zu kämpfen lohnt und die verteidigt werden müssen.
Zudem rückte die Frauenbefreiung immer stärker ins Zentrum der Bewegung. Gleichzeitig bleibt jedoch kritisch anzumerken, dass das Patriarchat mit seiner materiellen Basis nicht umfassend angegriffen wird und stattdessen ein Rückzug ins Dorf sowie eine Besinnung auf Traditionen in den Vordergrund rücken. Dass dies in der praktischen Umsetzung, ohne eine Auseinandersetzung mit den Klassenverhältnissen, die Ausbeutung und Sexismus selbst reproduzieren, schwierig ist, überrascht kaum.
Diese Entwicklung lässt sich einerseits im Versuch der Implementierung des demokratischen Konföderalismus in Rojava beobachten. Andererseits sind auch die aktuellen Entscheidungen der Partei letztlich nur eine Fortführung ihres bestehenden Programms.
Insofern ist auch die Auflösung der PKK, auch wenn sie für viele überraschend kam und mit einer vollkommenen Verkehrung der türkischen Realität begründet wurde, nicht so unvermittelt. Schon seit Jahren bildet der parlamentarische Kampf in der Türkei, der Versuch, eine legale Partei zu etablieren, die kurdischen Nationalismus, Linkspopulismus und Reformismus kombiniert, den eigentlichen Kern der Politik. Die Guerilla bildete für den Kampf eigentlich nur eine Reserve, ein Faustpfand für die Suche nach einem „Friedensprozess“, der nicht kam oder vom türkischen Staat hintertrieben wurde. In Rojava spielte die PKK eine zweifellos sehr wichtige und fortschrittliche Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat, aber auch hier erschöpfte sich letztlich ihre Rolle in der einer bewaffneten Reserve.
All das erlaubt uns zu verstehen, welche Gründe Öcalan und die PKK zur Selbstauflösung trieben. Hinzu kamen aber auch noch weitere, die mit der aktuellen Lage in der Türkei wie auch in Syrien zu tun haben.
Imperialistische Kräfteverhältnisse und das politische Kalkül Ankaras
Im Oktober letzten Jahres sorgte Devlet Bahçeli, Vorsitzender der ultranationalistischen MHP, mit einer überraschenden Aussage im Parlament für Aufsehen: Sollte Abdullah Öcalan die PKK auflösen, könne er sich vorstellen, ihn ins Parlament zu holen. Diese Aussage schlug Wellen und stellte einen symbolischen wie politischen Tabubruch dar. Vor allem innerhalb der MHP gab es viele, die sich dagegen äußerten und sogar die Parteistrukturen verließen. Nur wenige Monate später, am 27. Februar, veröffentlichte Abdullah Öcalan sein viel beachtetes Statement, in dem er die PKK zur Niederlegung der Waffen aufrief. Im Mai folgte schließlich der Kongress der PKK, auf dem die Organisation beschloss, dem Aufruf ihres inhaftierten Anführers zu folgen.
Diese Entwicklungen vollzogen sich nicht im luftleeren Raum. Die internationale Lage verschärfte sich zunehmend. Insbesondere der Sturz des syrischen Machthabers Assad, zu dem die PYD, als syrischer Ableger der PKK, ein neutrales Verhältnis aufgebaut hatte, brachte neue Unsicherheiten. Gleichzeitig verschärft sich die globale Konfrontation zwischen den geopolitischen Blöcken unter der Führung der USA und Chinas. Auch die PKK gerät damit unter zunehmenden Druck, zwischen diesen Kräften zerrieben zu werden.
Die Türkei positioniert sich in diesem Machtgefüge als Regionalmacht mit eigenen Ambitionen, deren Einfluss jedoch über die eigenen Nachbarländer kaum hinausreicht. Die ökonomische Abhängigkeit von imperialistischen Geldgeber*innen bleibt bestehen, die Inflation ist hoch, und die Lebenshaltungskosten steigen im Land stetig.
In Syrien verfolgt die Türkei eigene Interessen. Sie war direkt in die Destabilisierungsversuche gegen Assad verwickelt und bemüht sich heute, die sogenannte Übergangsregierung unter al-Scharaa zunehmend in Abhängigkeit zu bringen. Die Türkei überflutet Syrien mit Billigwaren, Lebensmitteln etc. und nutzt die Region als neuen Absatzmarkt. Auch kann Erdoğan nun eine offensivere und größere Abschiebewelle von den Millionen Geflüchteten durchsetzen, ohne internationales Aufsehen zu erregen. Dass die Frage von Geflüchteten in der Türkei eines der Themen ist und war – bei den letzten Wahlen Hauptthema – macht nur deutlich, inwiefern dies nun in die Hände der aktuellen Regierung spielt.
Auch ideologisch und politisch gibt es Annäherungen: Die AKP und die islamistisch-nationale, syrische HTS eint eine ideologische Nähe, beide instrumentalisieren den Islam zur Legitimierung ihrer politischen Strategien, sowohl im Inland als auch in den besetzten Gebieten Syriens.
Deutlich wird vor allem, dass Erdoğan im aktuellen internationalen Machtgefüge bemüht ist, die eigenen Reihen im Inland enger zu schließen. Die gegenwärtige Regierung kann es sich nicht leisten, in Zeiten der Neuaufteilung der Welt und potenzieller kriegerischer Auseinandersetzungen größere innere Konflikte zu riskieren. Wichtiger erscheint es vielmehr, dass kurdische und türkische Arbeiter*innen gemeinsam im Falle von kriegerischen Auseinandersetzungen für die Interessen des türkischen Staates mobilisiert werden können. Die Einmischung der Türkei in Syrien, als Teil der NATO, wohlgemerkt, bedeutet dabei auch eine militärische Front, die geografisch immer näher an Israel rückt.
Ein gefährlicher Trugschluss: Der Glaube an den demokratischen Weg in der Türkei
Mit der ersten Veröffentlichung im Februar, bei der der verstorbene Sırrı Süreyya Önder als Teil der İmralı-Delegation den Brief Öcalans vorlas, war bereits im Raum, in dem das Statement verlesen wurde, nur wenig Euphorie zu spüren. Auch wenn es sich um einen „historischen Moment“ handelte – schließlich hatte Öcalan seit Jahren kaum öffentliche Stellungnahmen abgegeben und Berichte über Besuchsmöglichkeiten waren so gut wie nicht vorhanden –, war vielen anzumerken, dass das Statement sie mit Unsicherheit erfüllte.
Darin wurde zwar zu Recht betont, dass sich nach dem Zerfall der Sowjetunion viele linke Bewegungen neu orientierten und der sogenannte Realsozialismus zunehmend kritisiert wurde. Doch für die Bevölkerung blieb unklar, unter welchen Bedingungen und mit welchen konkreten Forderungen die Auflösung der PKK zu diesem Zeitpunkt bekannt gegeben wurde.
Im Verlauf der darauffolgenden Monate zeichnete sich ab, dass Gespräche zwischen der AKP-MHP-Regierung und Abgeordneten der DEM-Partei, die auch Teil der İmralı-Delegation waren, geführt wurden, ohne dass diese Kommunikation transparent gemacht wurde.
In seinem Statement erklärte Öcalan, die PKK habe ihre „historische Mission“ erfüllt, die kurdische Frage ins Zentrum des politischen Diskurses gerückt und die jahrzehntelange Politik der Leugnung und Assimilation durchbrochen. Die Kongresserklärung der PKK fügt hinzu, dass die kurdische Frage nun an einem Punkt angelangt sei, an dem sie auf demokratischem Weg gelöst werden könne.
Doch die politische Situation in der Türkei hat sich keineswegs so verändert, dass ein „demokratischer Weg“ realistisch oder gangbar erscheint. Im Gegenteil: Seit den Jahren 2015/2016, in denen die HDP aus eigener Kraft zweistellig ins türkische Parlament einzog, wurden zahlreiche Abgeordnete gewählt, von denen viele bis heute inhaftiert sind.
Die Hoffnung, dass mit der Auflösung der PKK auch der Terrorismusvorwurf gegen kurdische Aktivist*innen, ja die gesamte Bevölkerung entkräftet würde, ist trügerisch. Sie zeigt, wie viel falsche Hoffnung in den türkischen Staat gesetzt wird, der sich in der Vergangenheit immer wieder als unnachgiebig und repressiv erwiesen hat.
Im Sommer soll die PKK endgültig die Waffen niederlegen, wohlgemerkt, während die türkische Armee weiterhin Gebiete angreift, in denen sich PKK-Kämpfer*innen aufhalten. Was mit den Kämpfer*innen passiert ist, ist dabei bis heute noch unklar.
Denn das eigentliche Problem war nie die Existenz der PKK an sich. Menschen wurden und werden auch ohne stichhaltige Beweise inhaftiert. Der türkische Staat hat dies vielfach bewiesen und wird, wenn nötig, andere Repressionsapparate nutzen, um seinen Kurs fortzusetzen. Doch warum macht Erdoğan den Schritt?
Verfassungsänderung als Machtstrategie: Erdoğan, die DEM-Partei und der Druck auf die kurdische Bewegung
Erdoğan plant, die türkische Verfassung zu ändern, offiziell, um darin bestimmte Rechte für Kurd*innen zu verankern. In Wirklichkeit jedoch verfolgt er damit das Ziel, sich erneut zur Präsidentschaftswahl aufstellen zu können. Das würde aber eine Verfassungsänderung erfordern. Ihm ist bewusst, welches politische Potenzial die kurdische Bevölkerung in der Türkei besitzt: Gelingt es ihm nicht, sie auf seine Seite zu ziehen, könnte sich ihr Widerstand auf der Straße formieren und seine schwindende Popularität weiter untergraben. Eine breite demokratische Massenbewegung, getragen von kurdischen und türkischen Arbeiter*innen, wäre für ihn eine reale Gefahr.
Für die geplante Verfassungsänderung fehlt Erdoğan im Parlament die notwendige Mehrheit. Um eine Volksabstimmung darüber einzuleiten, benötigt er mindestens 360 Stimmen. Gemeinsam mit der MHP bringt die AKP jedoch nur etwa 330 Abgeordnete zusammen. Die größte Oppositionspartei CHP kommt als Bündnispartnerin nicht infrage, da sie angekündigt hat, kein Vertrauen in eine solche Verfassungsänderung zu haben, zumal Erdoğan sich bereits heute nicht an die bestehende Verfassung halte. Deshalb wirbt Erdoğan gezielt um die Unterstützung der kurdischen DEM-Partei, deren 56 Abgeordnete ihm die erforderliche Mehrheit verschaffen könnten.
Die aktuelle Verfassung stammt aus der Zeit nach dem Militärputsch in den 1980er Jahren. Ein Änderungsbedarf besteht unbestritten, doch die Frage bleibt, zu wessen Gunsten diese ausfallen würde und wer sie wie durchsetzt. Vereinzelte Zugeständnisse an Kurd*innen werden die strukturelle Unterdrückung nicht beenden. Wie die Geschichte zeigt, sind gesetzliche Regelungen das eine – gesellschaftliche Realität das andere.
Obwohl Erdoğan in seinen Reden betont, auf den Willen des Volkes hören und sich nicht erneut zur Wahl stellen zu wollen, sprechen seine Handlungen eine andere Sprache. Die Verhaftung seines größten politischen Rivalen Ekrem İmamoğlu (CHP) im Herbst 2024 sowie eine geplante Justizreform verstärken den autoritären Charakter des türkischen Regimes. Gleichwohl steigt Erdoğans Beliebtheit in Teilen der Bevölkerung, die ihn als denjenigen wahrnehmen, der „Frieden“ mit den Kurd*innen anstrebt.
Dabei hat sich seit Beginn seiner Amtszeit die Zahl der Inhaftierten drastisch erhöht, ebenso wie die Zahl der Gefängnisse. Aktuell gibt es mehr als 400 Justizvollzugsanstalten in der Türkei. Politisch motivierte Festnahmen sind dabei längst zur Regel geworden, um oppositionelle Bewegungen zu schwächen. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Gefangenen in den letzten sechs Jahren verdreifacht hat.
Ein weiterer Schritt ist das sogenannte 10. Justizpaket, das von der Regierung als Zeichen einer neuen Ära präsentiert wird. Darin vorgesehen ist unter anderem die vorzeitige Entlassung kranker und älterer Gefangener, auch aus der PKK. Eine breitere Amnestie für kurdische Gefangene, so wie es die DEM-Partei einfordert, soll, wenn überhaupt, erst im Herbst diskutiert werden, dann, wenn auch die Verfassungsreform vorgelegt wird.
Die Abgeordneten der DEM-Partei im Justizausschuss kritisieren diese Reformpläne scharf. Sie werfen der Regierung vor, mit den Vorschlägen systematische Diskriminierung fortzusetzen und den gesellschaftlichen Frieden weiter zu gefährden. In einem Schreiben betonen sie, dass die Erleichterungen für Gefangene politische Häftlinge explizit ausschließen. Damit werde das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz ausgehöhlt.
Schlussfolgernd kann man sagen, dass in Erdoğans Verfassungsreform Menschenrechte und kurdische Rechte eine dekorative, zweitrangige Rolle spielen, die vor allem helfen sollen, das eigentliche Ziel, die Sicherung seiner Stellung und die Wiederwahl als Präsident, zu gewährleisten. Sollte die DEM-Partei diesem Prozess zustimmen, käme das einem Verrat an der eigenen Bewegung gleich.
Hinzu kommt, dass Erdoğan die kurdische Bewegung systematisch zerschlagen hat: Führende Mitglieder der DEM (ehemals HDP) sitzen seit Jahren in Haft. Mit der Festnahme İmamoğlus wurden auch liberale und nationalistische Kräfte aus dem Weg geräumt. Damit soll das Erdoğan-Regime weiter gefestigt werden. Demokratische Teilhabe, wie sie die PKK fordert und die Öcalan zufolge zunehmen würde, ist unter solchen Bedingungen eine reine Farce.
Zwar ruft die Bewegung die Bevölkerung, darunter insbesondere Jugendliche und Frauen, dazu auf, die kurdische Frage demokratisch in die eigenen Hände zu nehmen. Doch dieser Appell stößt auf die harte Realität: Anhaltende Repression, hohe Inflation, soziale Unsicherheit und die Angst vor weiterer Kriminalisierung sowie das Fehlen einer breiten Massenorganisation lähmen weite Teile der Bevölkerung.
Dabei geht es nicht um ein Festhalten an der Guerillataktik, auch wenn der bewaffnete Kampf für viele Kurd*innen über Jahrzehnte ein zumindest symbolischer Hoffnungsträger gegenüber dem Staat war. Die kurdische Bewegung innerhalb der Bevölkerung ist heute nicht mehr so stark organisiert wie in den 1990er Jahren oder in den Jahren des Widerstands gegen den IS in Kobanê (Stadt und Kanton der kurdisch selbstverwalteten Region Rojava; d. Red.).
Währenddessen konzentriert sich die DEM-Partei zunehmend auf Forderungen nach kommunaler Selbstverwaltung, wie etwa bei ihrem kürzlichen zweitägigen Treffen in Amed (türkisch: Diyarbakır; d. Red.) deutlich wurde. Eine sicherlich fortschrittliche Teilforderung. Aber in den aktuellen Zeiten ist sie allenfalls ein politischer Nebenschauplatz. Der Fokus darauf bedeutet in Wirklichkeit, dass man die großen Fragen der Türkei – der Stärkung der nur notdürftig „demokratisch“ verhüllten Diktatur Erdoğans, der tiefen ökonomischen Krise, der nationalen Unterdrückung, der regionalen Ambitionen der Türkei und damit verbunden reaktionären Interventionen – an sich vorbeigehen lässt.
Was heute getan werden muss
Zwar veröffentlichen die DEM-Abgeordneten, die an verschiedenen Teilen des Prozesses beteiligt sind, immer wieder Statements, in denen sie das Vorgehen der Regierung und der Ausschüsse im Friedensprozess kritisieren, doch finden einige Gespräche bislang hinter verschlossenen Türen statt. Das muss beendet werden, alle Verhandlungen müssen öffentlich und für die Bevölkerung zugänglich gemacht werden.
Dann würde sich auch rasch zeigen, dass der sog. Friedensprozess vor allem zur Befriedung der Kurd*innen dient und dazu, dem türkischen Regime Ruhe im Kampf gegen die Demokratiebewegungen zu verschaffen. In diesen Massenprotesten für die Freilassung İmamoğlus muss die kurdische Frage immer mit einbezogen werden, zugleich müssen die kurdischen Parteien und die Massen jeden Sonderdeal mit Erdoğan zurückweisen und dürfen sich auf das Spaltungsspiel der Regierung nicht einlassen.
Es darf keine Zugeständnisse und kein Vertrauen seitens der PKK oder der DEM-Partei gegenüber der aktuellen Regierung geben! Nein zu einer Verfassungsänderung, die Erdoğans Macht weiter festigt! Stattdessen: Sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen, Aufhebung aller Versammlungs- und Parteiverbote, Wiedereinsetzung aller abgesetzten kurdischen Bürgermeister*innen und Kommunalverwaltungen!
Allein diesen elementaren demokratischen Forderungen werden Erdoğan, Bahçeli und ihre Parteien niemals freiwillig zustimmen. Allein dazu braucht es eine Massenbewegung, die weit über die Mobilisierungen der letzten Monate hinausgeht, die wirklich das Regime erschüttert. Der sog. Friedensprozess ist ein Weg in die Sackgasse.
Stattdessen braucht es eine Bewegung, die kurdische und türkische Arbeiter*innen und alle Unterdrückten vereint. Ein gemeinsamer Kampf kann und muss in Verteidigung demokratischer Rechte einschließlich des kurdischen Selbstbestimmungsrechts geführt werden; er muss geführt werden im Kampf gegen Inflation, für eine gleitende Skala der Löhne und Einkommen für Rentner*innen und Arbeitslose, für einen Mindestlohn, der zum Leben reicht, gegen alle drohenden Entlassungen und Schließungen.
Dabei muss das Recht auf kurdische Selbstbestimmung heute mehr denn je verteidigt werden. Dieses Selbstbestimmungsrecht kann aber nicht durch eine Pseudoreform des türkischen Staates, sondern nur im größeren Kontext einer permanenten Revolution im Nahen Osten errungen, ausgebaut und geschützt werden. Das größte Hindernis ist dabei ebenso wie in Rojava eine Führungskrise, das Fehlen einer revolutionären Partei, die die Massen für die Verallgemeinerung dieses Befreiungskampfes gewinnen kann.
Auch wenn die PKK ihre eigene Auflösung beschlossen hat, so ist es unklar, ob es wirklich dazu kommen wird. Schließlich bekämpft die türkische Armee weiter die Guerilla. Zweifellos bedarf sie aber einer (selbst)kritischen Bilanz. Aber die Lösung Öcalans und der PKK-Mehrheit, die Ersetzung der Guerillastrategie durch einen legalen, kleinbürgerlichen Demokratismus, stellt keine Lösung dar. Vielmehr braucht es eine strategische und programmatische Neuausrichtung, den Kampf für eine revolutionäre Arbeiter*innenpartei in der Türkei und eine neue revolutionäre Internationale.