Aventina Holzer, Flammende Nr. 8
Wir befinden uns in kriegerischen Zeiten. Nicht nur das Gefühl oder ein Blick in die Nachrichten, sondern auch statistische Erhebungen belegen das. Wenn wir uns in linken Kreisen dazu austauschen, geht es oft um Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus neben Militarisierung und Machtinteressen. Was ist aber genau gemeint mit diesen Begriffen? Was sind die Hintergründe und warum sind sie so relevant für unsere Zeit und das Verstehen von Konflikten?
Dieser Artikel gibt einen kleinen Einblick in die Ideengeschichte zentraler marxistischer Begriffe mit der, so gut es geht, versucht wird ein zusammenhängendes Verständnis der kapitalistischen Welt und der historischen Auswirkungen von Kolonialismus und nationaler Unterdrückung zu zeichnen.
Imperialismus
Imperialismus ist ein Wort mit vielen Bedeutungen. Grundlegend bezeichnet es historisch eine Phase der (staatlichen) Expansion, in der manche Länder, andere ausbeuten, kolonisieren oder einnehmen (z.B. für Ressourcen) insbesondere auch auf anderen Kontinenten und ein Großreich (Imperium) anstreben. Wir verstehen darunter beispielsweise die Kolonialisierung Indiens unter Großbritannien oder die Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den damaligen Großmächten. Zu Beginn der Kolonialisierung im 16. Jahrhundert hatten nationalstaatliche Gedanken und Interessen dabei noch eine weniger starke Rolle gespielt. Der Imperialismus von damals hatte also wenig mit dem Zustand zu tun, in dem wir uns heute befinden. Schließlich sind Nationalstaaten nun die Norm und es gibt wenig kolonialisierte Länder, oder?
Als Marxist*innen verwenden wir den Begriff etwas anders als die vorangehenden Beschreibungen. Wir sehen den Imperialismus nicht nur als eine Beschreibung von Handeln und Politik mancher Länder, sondern als eine Phase in der Entwicklung des Kapitalismus. Der marxistische Imperialismus-Begriff hat beschreibt also nicht nur ein politisches Phänomen sondern insbesondere auch eine ökonomische Entwicklung. Natürlich gab es Expansion und Kolonialismus bevor es Kapitalismus gab. Mit den modernen Transportmitteln und industrialisierter Kriegsführung erreichte aber die Ausbeutung von Kolonien eine neue Dimension, die den Imperialismus beispielsweise des römischen Reiches oder Karls des Großen schon fast als lächerlich erscheinen lassen. Für dieses moderne Phänomen braucht es auch eine moderne Erklärung, die Imperialismus insbesondere als kapitalistisches Phänomen begreift und versteht.l
Viele Theoretiker*innen der Arbeiter*innenbewegung versuchten, die neuen Entwicklungen des Kapitalismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu verstehen: wie alles auf der Welt immer kapitalistischer wurde und was das für ein marxistisches Verständnis der globalen Lage bedeutete. Hilferding, Luxemburg und andere erarbeiteten eigene Analysen und sammelten auch viel Datenmaterial zur Situation. Auch Lenin griff einige dieser Analysen, insbesondere jene des bürgerlichen Ökonomen John Atkinson Hobson, und Materialien in seiner eigenen Theorie des Imperialismus auf und fasste diese in seiner 1916 erschienen Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ zusammen. Er begriff den Imperialismus nicht als eine Eigenschaft des einen oder anderen Staates, sondern als moderne Entwicklungsstufe des Kapitalismus. Zusammenfassend charakterisierte er den modernen Imperialismus durch folgende Merkmale: 1) Konzentration von Kapital und Produktion verbunden mit der Herausbildung von Monopolen, 2) Verschmelzung von Bank- und Industriekapital zu Finanzkapital, 3) Kapitalexport wird im Vergleich zum Warenexport dominant 4)internationale, monopolistische Kapitalistenverbände teilen den Weltmarkt unter sich auf 5) komplette territoriale Aufteilung der Welt unter den kapitalistischen Ländern.
Was können wir uns daraus mitnehmen?Diese Beschreibung ist auch heute noch in vielen Aspekten zutreffend, wenn auch ein zentraler Aspekt, nämlich die direkte Aufteilung der Welt in Kolonialreiche, zwar damals zutraf, von modernen Entwicklungen aber überholt wurde. Zentral ist, dass der imperialistische Kapitalismus sich in diesen Aspekten von der Entwicklungsstufe des Kapitalismus der industriellen Revolution schon deutlich unterschieden hat. Die bürgerliche Klasse war schon immer eine ausgesprochen nationale Klasse, da sie die Herstellung eines gemeinsamen Marktes und Vereinheitlichung wichtiger Aspekte wie Geld oder Warenverkehr brauchte um ihre Interessen – insbesondere gegen den Feudalismus – durchsetzen zu können. Der Nationalstaat ist also mit dem Aufstieg der bürgerlichen Klasse historisch gewachsen. Der Nationalstaat begrenzt aber immer auch den Ausbreitungsdrang des Kapitals. Der kapitalistische Wettbewerb erfordert von Unternehmen eine stete Ausweitung, um sich gegen andere durchsetzen zu können. Dafür braucht es eine Ausweitung von Produktion und Absatzmärkten sowie die Steigerung der Profite. Dafür sind irgendwann die Grenzen im nationalstaatlichen Rahmen erreicht und eine internationale Ausweitung von Produktionsketten und Absatzmärkten wird notwendig. Das führt speziell bei der Frage von Märkten und territorialem Einfluss zu Widersprüchen, die oft ohne Krieg gar nicht lösbar sind. Im ersten Weltkrieg beispielsweise war eines der zentralen Motive des deutschen Imperialismus, der beim „Wettlauf um die Kolonien“ zu spät gekommen war, hier Absatzmärkte, Rohstoffreservoirs und Arbeitskräfte zu bekommen, um den Expansionsinteressen seines Kapitals nachzukommen. Lenins Analyse war insbesondere unter dem Eindruck des 1. Weltkriegs entstanden und damit auch geprägt von der industrialisierten Kriegsführung. Eine neue Stufe der kapitalistischen Expansion erzeugt eben auch eine neue Stufe der Kriegsführung.
In diesem imperialistischen Kontext gibt es Länder, die davon profitieren und andere, von denen profitiert wird. Das hat meistens historische Gründe. So sind viele der früheren Kolonialmächte, auch heute noch die wirtschaftlich stärksten Länder. Es kann sich aber im Laufe der Zeit natürlich auch ändern. Ein Beispiel hierfür ist Portugal, das trotz seiner frühen zentralen Stellung in der Kolonisierung heute keine wichtige Rolle im imperialistischen Machtgefüge spielt. Es gibt aber auch andere Beispiele, die zeigen, dass die wichtigsten imperialistischen Großmächte nicht notwendigerweise auch selbst große Kolonialmächte gewesen sein müssen. Die besten beiden Beispiele sind die heute größten kapitalistischen Mächte: die USA und China. Die USA hat sich als ehemalige Kolonie gegen Großbritannien im 20. Jahrhundert durchsetzen können. Insbesondere nach dem 2 Weltkrieg geriet der US-Imperialismus oftmals mit dem britischen oder französischen über die Form der Ausbeutung des globalen Südens in Widerspruch. Die USA bevorzugten hier eine Ausbeutung formell unabhängiger Staaten und deren indirekte Abhängigkeit von den Großmächten. Dabei spielten ihnen die Unabhängigkeitsbestrebungen der alten Kolonien in die Hände, sowie ihre politische, ökonomische und militärische Vormachtstellung nach dem Krieg. China hingegen konnte nur über die vom kapitalistischen Weltmarkt unabhängige Entwicklung als nachkapitalistische Gesellschaft mit degeneriertem Arbeiter*innenstaat (bis zur endgültigen Restaurierung des Kapitalismus in den 1990er Jahren) die Stufe einer imperialistischen Großmacht erlangen.
Was ist mit den Ländern, die unter der Ausbeutung der Stärkeren leiden? Viele davon standen in der Vergangenheit unter einem direkten kolonialen Ausbeutungsverhältnis, das zu Rohstoffabbau, Umweltzerstörung, Entmündigung und Versklavung der Menschen sowie brutale Unterdrückung von existierenden Gesellschaftsstrukturen geführt hat. Auch wenn die meisten Länder heutzutage formal unabhängig sind, stehen sie meistens trotzdem noch in extremen Abhängigkeitsverhältnissen – oftmals besonders stark zu den Ländern, die früher ihre Kolonialmächte waren. Hier gibt es eine besondere Kontinuität der kolonialen Ausbeutung. Aber nicht nur das. Es gibt auch Länder, die aufgrund ihrer zu späten Orientierung auf den Kapitalismus als Verlier*innen ausgestiegen sind. Zu spät am kapitalistischen Weltmarkt angekommen, mussten sie sich von Anfang an mit einem Platz in der zweiten Reihe begnügen. . Heute müssen sie sich auf stärkere Partner*innen orientieren und werden von diesen wiederum systematisch „klein“ gehalten. Viele davon führen auch in ihren eigenen Regionen einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft, um bessere Deals, Handelsrouten, Rohstoffe und ähnliches erlangen zu können. Auch wenn es eine Menge an Ländern mit unterschiedlichen Charakteristika zusammenfasst, bezeichnen wir diese Länder als Halbkolonien. Halbkolonien deshalb, weil sie zwar formal unabhängig sind, aber trotzdem in einem wirtschaftlichen, politischen und militärischen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis zu einer oder mehreren dominanten Großmächten stehen. Letztere bezeichnen wir als imperialistische Mächte.
Diese Unterteilung ist nicht nur wichtig, um genauere Begriffe zur Beschreibung der kapitalistischen Welt zu haben. Die Unterteilung ist auch zentral, um die imperialistischen Machtverhältnisse besser verstehen zu können und zu politischen Schlussfolgerungen zu kommen. Dafür müssen wir uns aber auch noch genauer ansehen, wie Kolonialismus, Rassismus und nationale Unterdrückung in der imperialistischen Epoche zusammenspielen.
Kolonialismus und Rassismus
Kolonialismus selbst hat eine zentrale Rolle für die Herausbildung des modernen Kapitalismus gespielt. Dabei sind speziell die direkte wie indirekte Versklavung von Menschen und deren ideologische Rechtfertigung, – die Menschen das Menschsein abspricht und/oder sie in eine untergeordnete Stellung zwingt besonders nachwirkend.
Das kapitalistische System baut auf der ursprünglichen Akkumulation auf, die Marx im Kapital beschrieben hat. Es geht hierbei um den historischen Prozess, der die ursprüngliche Anhäufung von Kapital (also in einer frühkapitalistischen Phase) ermöglichte. Dieser Prozess war ein gewaltsamer, der die Aneignung von Gemeingütern, Grund und Boden, Produktionsmitteln, Rohstoffen und Arbeitskräften bedeutet hat. Für diesen Prozess war auch die koloniale Ausbeutung (insbesondere der Amerikas) ein zentraler Aspekt ohne den die kapitalistische Entwicklung deutlich länger gedauert hätte.
Um das mehr als brutale Vorgehen der Kolonialstaaten zu rechtfertigen, wurden rassistische Erklärungsmodelle immer relevanter – Menschen wurde das Menschsein abgesprochen und speziell anhand von Hautfarbe und Lebensweisen negative Eigenschaften angedichtet, die eine „natürliche“ Überlegenheit der weißen „Kolonialherren“ beweisen sollten. Das rechtfertigte nicht nur eine Überausbeutung, sondern diente auch dazu, die physische Vernichtung ganzer Völker zu legitimieren. Dies sind die Ursprünge des modernen Rassismus, der bis heute – trotz mutiger Unabhängigkeitskämpfe von versklavten und kolonisierten Menschen – ideologisch stark prägt welche Form Rassismus annimmt und auf welche Erklärungsmuster zurückgegriffen wird.
Diese Nachwirkungen des vor- und frühkapitalistischen Kolonialismus sind extrem relevant, um Rassismus heute zu verstehen. Dabei sind sie nicht nur wichtig zur Erklärung der systematischen Ungleichheit in der Entwicklung unterschiedlicher Länder, sondern auch für das Verständnis der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus.
Die Frage, warum sich im Kapitalismus nicht alle Länder zu modernen Industrienationen entwickeln können, haben sich auch andere Marxist*innen gestellt. Insbesondere Leo Trotzki versuchte mit seiner Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung eine Erklärung dafür zu liefern: Der Kolonialismus hielt einige Länder lange Zeit in vorkapitalistischen Strukturen gefangen Die Entwicklung des Kapitalismus in diesen Ländern war nicht komplett aufzuhalten, nahm aber andere bzw. auch unvollständige Formen an, die wiederum die Ausprägung von Produktion und Gesellschaft bestimmten. Insbesondere war es für die dominanten Mächte im imperialistischen Weltsystem nicht vorteilhaft, andere Länder auf ihre Entwicklungsstufe aufsteigen zu lassen, weshalb es sehr spezielle historische Umstände benötigte, um so eine Entwicklungsstufe zu erreichen. Letztlich wurden Marktverhältnisse durchgesetzt, Ressourcen kapitalistisch ausgebeutet, Produkte angeeignet und selbst Industrien errichtet, aber die Halbkolonien blieben immer in einer abhängigen und „unterentwickelten“ Position.
Nationale Unterdrückung
Nationale Unterdrückung beschreibt eine Form der sozialen Unterdrückung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer anderen Nation als die des herrschenden Nationalstaates. Beispiele dafür sind die Unterdrückung der Kurd*innen in Türkei, Irak, Iran und Syrien, der Sahrauis in Marokko, der Uigur*innen in China oder der Belutsch*innen in Pakistan. Sie hat oftmals sehr spezifische nationale Ausprägungen und einen weniger universellen Charakter als der Rassismus, der seinen Ursprung im Kolonialismus hat. Es gibt durchaus Beispiele, wo eine nationale Minderheit in einem Land Unterdrückung erfährt, aber im Nachbarland die Verhältnisse genau umgekehrt sind (beispielsweise Kroatien und Serbien). Oftmals hat diese nationale Unterdrückung auch eine viel längere Geschichte als die Formen des modernen Rassismus, die Produkte des modernen Kapitalismus sind.
Ein wesentliches Werkzeug von Marxist*innen im Kampf gegen nationale Unterdrückung ist das Recht auf nationale Selbstbestimmung von unterdrückten Nationen. Das bedeutet auch das Recht auf einen eigenen Nationalstaat. Wir bestehen in keinem Fall darauf, dass nationale Unterdrückung ausschließlich in einem separaten Nationalstaat gelöst werden muss. Genauso kann es auch möglich sein, nationale Unterdrückung durch Formen der Autonomie oder gleichberechtiger Repräsentation zu bekämpfen. Es gibt historisch einige Beispiele, wo nationale Unterdrückung auch innerhalb eines Staates gelöst wurde. Das kann durch die gleichberechtigte Integration einer unterdrückten Nation in die Mehrheitsgesellschaft erfolgen,wie etwa bei der Integration der Provenzal*innen in die französische Nation oder die Integration vormalig rassifizierter europäischer Migrant*innen (Ir*innen, Italiener*innen) in die weiße Mehrheitsgesellschaft der USA. Oder es kann durch echte Gleichberechtigung von Nationen innerhalb eines Staates funktionieren (beispielweise der Schweiz). Nahezu alle diese Beispiele stammen aber aus einer Zeit, in der der Kapitalismus gegenüber dem Feudalismus noch einen fortschrittlichen Charakter hatte. Die Aufhebung nationaler Unterdrückung kann heute nur mehr in einer sozialistischen Gesellschaftsformation gelingen.
Gleichzeitig ist wichtig, dass wir Nationalismus als bürgerliche Ideologie grundsätzlich ablehnen. Das gilt für den Nationalismus unterdrückter Nationen genauso wie für den Nationalismus unterdrückender Nationen. Wir stellen diese Nationalismen allerdings nicht einfach auf die gleiche Stufe. Der Kampf gegen den Nationalismus unterdrückter Nationen muss gemeinsam mit einem Kampf gegen die nationale Unterdrückung dieser Nationen geführt werden. Oftmals erwächst die Kraft des Nationalismus unterdrückter Nationen aus genau dieser Unterdrückung selbst oder wird maßgeblich dadurch verstärkt. Der Kampf gegen den Nationalismus der unterdrückenden Nationen hingegen erfolgt in direkter Konfrontation mit ebendiesem und muss gegen seinen unterdrückerischen Apsekt und für Internationalismus und Klassensolidarität geführt werden. Dafür ist es wichtig zu beachten, dass das Recht auf nationale Selbstbestimmung ein demokratisches Recht ist, so wie das Wahlrecht oder das Recht auf Pressefreiheit. Dass es nicht direkt zum Kommunismus führt, heißt nicht, dass es nicht in sich das progressive Element eines Kampfes gegen Unterdrückung trägt und die politische Arbeit im weiteren Verlauf erleichtern kann, vor allem dadurch, dass die nationale Gegensätze in den Hintergrund geraten und die Klassengegensätze zum Vorschein kommen können. Gleichzeitig ist, wie oben erwähnt, nationale Unterdrückung genau der Nährboden, auf dem reaktionäre Kräfte Zulauf und Zustimmung gewinnen können. Gibt es beispielsweise auf die Unterdrückung der Palästinenser*innen keine fortschrittliche Antwort, ist klar, dass davon reaktionäre Kräfte profitieren.
Während wir diese Dinge im Kopf behalten, muss die revolutionäre Strategie auch immer beinhalten, gegen bürgerlichen Nationalismus als klassenübergreifende Ideologie zu agitieren. Der Zusammenhalt aller Ausgebeuteten und Unterdrückten ist das Ziel und nicht Kleinstaaterei oder Überlegenheit einer „Kultur“ oder Nation über eine andere. Genauso wie die Frage rund um nationale Unabhängigkeit manchmal einen übergeordneten Charakter hat und manchmal einen untergeordneten, so ist auch die Kritik des Nationalstaates manchmal wichtiger als andere male. Beispielweise kann der berechtigte Kampf für nationale Selbstbestimmung in einem Weltkrieg sehr schnell einen reaktionären Charakter annehmen, wenn er dazu führt, dass sich eine unterdrückte Nation dadurch in eine imperialistische Allianz einfügt.
Die Frage ist immer: Wie kommen wir am besten zu unseren Zielen, zur sozialistischen Revolution? Die Realität zu negieren oder nicht mit ihren Widersprüchen umgehen zu wollen und direkt auf ein weit entferntes Ziel zuzusteuern, ist bestenfalls utopisch, idealistisch und schlimmstenfalls reaktionär und zynisch. Wir sind gegen den Staat, ihn aber im kapitalistischen System bereits als nichtig zu erklären und auf die „Diktatur des Proletariats“ zu verzichten – wie es manchmal autonome, anarchistische und antinationale Kräfte tun wollen – wäre realitätsfern und ein Schlag ins Gesicht aller Ermordeten, Verschleppten und Unterdrückten im Kampf gegen Imperialismus und Kolonialismus.
Ableitungen für Hier und Jetzt
Wir haben also einige Zusammenhänge ausgeführt. Kolonialismus ist der historische Grund für den kapitalistischen Rassismus. Der Kapitalismus befeuert in seinem Expansionsdrang die koloniale Ausbreitung. Die bürgerliche Klasse braucht einen Nationalstaat, um ihre Klasseninteressen zu verwirklichen. Die ökonomischen Tendenzen des Kapitalismus führen zum Imperialismus, der die Widersprüche des Nationalstaates auf dem Weltmarkt zum Höhepunkt bringt und ihren Ausdruck in nationaler Unterdrückung, Rassismus und Krieg finden.
Momentan haben wir viele kriegerische Konflikte, die sich an nationaler Unterdrückung entladen (Ukraine, Rojava, Palästina, etc.). Das hat unter anderem damit zu tun, das die Aufteilung der Welt komplett ist und jede Neuaufteilungsversuche eine starke und auch ideologisch gedeckte Rechtfertigung brauchen – die durch nationale Ansprüche gegeben werden kann. Das bedeutet aber auch dass die nationale Frage eine gewisse Sprengkraft besitzt, da sie innerhalb der großen imperialistischen Blöcke die übergeordneten Interessen der herrschenden Nationen aufzeigt und eine Möglichkeit der Verbindung von Kämpfen aber auch der ökonomischen, politischen und ideologischen Schwächung imperialistischer Länder bedeutet bzw. bedeuteten kann.
Es ergeben sich also unterschiedliche Aufgaben für Revolutionär*innen in den imperialistischen und halbkolonialen Ländern, die aber idealerweise unter einer gemeinsamen und international agierenden Organisation arbeiten können.
In den imperialistischen Zentren ist es wichtig, das Recht auf nationale Unabhängigkeit und Selbstverteidigung zu unterstützen und, so gut es geht, gegen den eigenen imperialistischen Staat vorzugehen. Antimilitaristische Mobilisierungen, speziell wenn es um kriegerische Interventionen des eigenen Staates geht, sind hierbei zentral. Wir müssen uns auch gegen die ideologischen Rechtfertigungen für Krieg und Ausbeutung des globalen Südens einsetzen, speziell im Kampf gegen Rassismus, der momentan im Westen am stärksten die Ausprägung eines „Kultur-Rassismus“ annimmt und sich auf die „muslimische Welt“ konzentriert. Wir haben keine Illusionen in unseren Staat und seinen Nationalismus – vielmehr braucht es die Erkenntnis, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht. Unser Hauptfeind ist nicht der russische oder der US-Imperialismus, sondern der österreichische Imperialismus und seine Rolle im Kontext des EU-Imperialismus.
In den halbkolonialen Ländern ist der gemeinsame Kampf gegen den Imperialismus und die nationale Unterdrückung zentral. Dabei darf nicht die Illusion eines ethnisch „reinen“ Nationalstaates, der sich wiederum selbst der kapitalistischen Logik beugt, gewinnen. Stattdessen treten wir für eine sozialistische Auflösung der Widersprüche und einen Kampf für ein sozialistisches Staatenbündnis mit allen Ländern der Region. Minderheiten der eigenen Region müssen geschützt und in den kollektiven Kampf zur Befreiung aller miteinbezogen werden. Den Aufrufen zur Vergeschwisterung der Arbeiter*innen der unterdrückten und unterdrückenden Nationen kommt hier ein deutlich größeres Gewicht zu als den Revolutionär*innen der unterdrückenden Nationen, deren Hauptaufgabe in der Verteidigung des nationalen Befreiungskampfs gegen „ihre“ eigene Bourgeoisie liegt.
Diese Aufgaben der heutigen Zeit hängen stark damit zusammen, wie der Kapitalismus sich entwickelt hat und wie der Kampf gegen den Imperialismus jetzt aussieht. Für ein Ende von Rassismus, Neo-Kolonialismus und für die sozialistische Revolution – Befreiung für uns alle!