
Dilara Lorin, Neue Internationale 289, Februar 2025
Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Halle … Hanau. Fünf Jahre ist es her, dass ein Rassist, der den Behörden schon seit Jahren bekannt war, neun unschuldigen Menschen das Leben nahm, allein, weil sie nicht in das enge Weltbild sogenannter „Deutscher“ passten. Fünf Jahre sind vergangen und die Aufarbeitung dieser Tat ist gescheitert. Die Morde von Hanau sind dabei direkte Konsequenz der rassistischen Politik und Hetze, die in den Monaten und Jahren zuvor geschürt wurde. Direkte Folge davon, dass die Behörden auf dem rechten Auge blind sind und die Gefahr solcher Taten nicht erkennen oder nicht erkennen wollen. Denn nicht selten befinden sich die Täter*innen in ihren eigenen Reihen.
Die Verantwortlichen wurden entweder befördert oder in den Ruhestand geschickt, ohne dass der Innenminister dazu ein Wort äußerte. Zwar hat dieser es nach sage und schreibe vier Jahren geschafft, eine lasche Entschuldigung für einige Fehler zu formulieren, doch diese blieb so oberflächlich wie möglich und benannte keine Verantwortlichen. Eine Entschuldigung kann die Toten ohnehin nicht wieder lebendig machen. Die Fehler und Versäumnisse der Polizei und des Staates wurden von der Initiative 19. Februar Hanau, Forensic Architecture, Journalist*innen und dem parlamentarischen Ausschuss umfassend dokumentiert. Dass 13 von 19 SEK-Polizist*innen, die am Täterhaus im Einsatz waren, an rassistischen Chats beteiligt waren, überrascht kaum noch jemanden. Der Notruf, den Vili Viorel Păun und viele andere vergeblich zu erreichen versuchten, hatte kein Überlaufsystem und war in den entscheidenden Minuten nur mit einer Person besetzt, ein Umstand, der lange Zeit vertuscht wurde.
Die Eltern von Vili Viorel erfuhren erst 16 Stunden nach der Tat vom Tod ihres Sohnes, und das auch nur auf eigene Nachfrage. Anschließend wurden sie vollständig alleingelassen. Auch die Familie von Mercedes Kierpacz, die in der Tatnacht von einer Sondereinheit der Polizei mit vorgehaltenen Waffen bedroht wurde, erlebte keinerlei Aufarbeitung dieses rassistischen Vorfalls. Stattdessen haben die Polizeipräsident*innen, Polizeiführer*innen und Polizeidirektor*innen Hanaus und Hessens systematisch vertuscht und gelogen, um ihr eigenes Versagen und ihre Verantwortung zu kaschieren. Dies erneut zu lesen und sich in Erinnerung zu rufen, lässt das Blut in den Adern gefrieren.
Rechtsruck überall
5 Jahre später hat sich nichts verbessert, sondern ist es nur schlechter geworden. Dabei geht es nicht nur darum, dass die AfD mehr Stimmen denn je einheimst, sondern dass „mehr Ausländer*innen abschieben“ akzeptiert ist in der „Mitte“ der Gesellschaft, antimuslimischer Rassismus einen neuen Höhepunkt erlebt und es 2024 17 % mehr rechte Straftaten gab als im Vorjahr – und sie somit einen neuen Höchststand erreichten.
Kurzum: Der Rechtsruck nimmt immer mehr Fahrt auf. Die Bundestagswahl im Februar findet vier Tage nach dem Jahrestag des Attentats statt. Forderungen nach Aufklärung und Konsequenzen? Davon gibt es natürlich keine Spur. Scholz, Habeck, Merz oder Weidel sind allesamt rassistisch. Scholz, der Abschiebekanzler, unter dessen Regierung die Zahl der Abschiebungen im Vergleich zum Vorjahr um 21 % gestiegen ist. Unter seiner Führung wurden Asylgesetzverschärfungen durchgesetzt, wie es sie in dieser Form in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gab. Habeck fordert, Menschen abzuschieben, wenn sie nicht arbeiten. Menschenrechte gelten also offenbar nur für diejenigen, die Geld verdienen. Merz hat die Idee der Remigration für sich entdeckt und will Menschen mit einer zweiten Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsangehörigkeit entziehen, wenn sie Straftaten begehen. Dabei erwähnt er im gleichen Atemzug Demonstrant*innen, die gegen den Genozid und die israelische Apartheid protestieren und ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausüben. Anscheinend steht jedoch die sogenannte Staatsräson über diesen Grundrechten. Ganz zu schweigen von den rassistischen und menschenverachtenden Aktionen der AfD, die noch nie ein Geheimnis aus ihren Nazi- und Abschiebefantasien gemacht hat. Abschiebetickets in die Briefkästen von Menschen zu werfen, die anscheinend keinen „deutschen Nachnamen“ haben, versehen mit dem Datum des 23. Februar 2025, dem Tag der Bundestagswahl, ist nur ein Beispiel für ihre Hetze. Hinzu kommen unzählige rassistische und sexistische Äußerungen der Abgeordneten, die viele von uns kennen, denen wir hier jedoch nicht weiter Raum geben wollen. Dass Alice Weidel sich mit Elon Musk trifft, einem Mann, der Tausende auf seinem Gewissen hat und durch seine Handlungen massiv zur Umweltzerstörung beiträgt, ist ein weiterer Ausdruck dessen, wofür diese Partei steht.
Dieser Rechtsruck breitet sich so schnell aus, weil zwei Faktoren ihn zusätzlich anheizen. Zum einen verschlechtert sich die ökonomische Lage für einen Großteil der Menschen, während die Regierung darauf keine Antwort hat außer weiteren Kürzungen, während gleichzeitig immer mehr Geld in das Militär und die Verteidigung fließen. Zum anderen versagen die organisierte Arbeiter*innenbewegung und die Linke darin, Lösungen und Alternativen aufzuzeigen und gegen die Angriffe zu kämpfen, was dazu führt, dass immer mehr Menschen nach rechts abdriften.
Erinnern heißt kämpfen – aber wie?
Deshalb ist es umso wichtiger, jetzt die Grundlagen für den Aufbau einer Bewegung zu schaffen, die sich gegen alle kommenden Kürzungen und für konkrete Forderungen einsetzt, die einen gemeinsamen Kampf aller ermöglichen. Unsere Aufgabe liegt darin, für die Verbindung mit antirassistischen Forderungen zu kämpfen. Es sind vor allem Arme, Arbeitslose und Menschen mit Migrationshintergrund, die am stärksten von Kürzungen, Massenentlassungen und ähnlichen Maßnahmen betroffen sein werden. Und erinnern heißt kämpfen und zwar so, dass niemand mehr an rechter Gewalt stirbt.
In der Praxis bedeutet das: Wenn wir beispielsweise für die Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro kämpfen, müssen wir dies mit der klaren Forderung verbinden, dass dies für alle Beschäftigten in Deutschland gelten muss, ohne Ausnahmen – das inkludiert also auch Geflüchtete. Wenn wir gegen hohe Mieten kämpfen, bedeutet es nicht nur einen Mietendeckel, sondern auch die Enteignung der Wohnungskonzerne und Umnutzungen von Spekulationsobjekten durchzusetzen – vor allem für jene ohne Wohnung oder alle, die gerade in Lagern untergebracht werden. Solche Forderungen könnten Tausenden Menschen erste konkrete Verbesserungen bringen. Diese und ähnliche müssen und können durch die Gewerkschaften und ein Bündnis aller Organisationen der Arbeiter*innenklasse erkämpft werden.
Um das Wirklichkeit werden zu lassen, müssen wir Migrant*innen uns innerhalb der Gewerkschaften in einer klassenkämpferischen Basisopposition organisieren, um sicherzustellen, dass antirassistische Forderungen Gehör finden. Gewerkschaften gelten als Organisationen für alle Arbeiter*innen und haben zumindest das Potenzial, den kollektiven Widerstand der Arbeiter*innenklasse zu organisieren und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verändern, um Forderungen gemeinsam durchzusetzen. Doch aktuell blockiert die Bürokratie, der Gewerkschaftsapparat mit seiner Politik der Sozialpartnerschaft und Illusion des „guten Wirtschaftsstandorts Deutschland“ fortschrittliche Kämpfe. Ein erster Schritt, dies herauszufordern, besteht darin, die Konfrontation in der Gewerkschaft selbst zu suchen:
So ist es essenziell, für das Recht auf Arbeit und volle politische Betätigungsrechte für alle Migrant*innen zu kämpfen und die Gewerkschaften für Geflüchtete zu öffnen. Wir sollten Solidaritätsdelegationen und Botschaften von Geflüchteten in Mobilisierungen und Vollversammlungen tragen, um unseren gemeinsamen Kampf sichtbarer zu machen und Druck zu erzeugen.
Auch die großen bundesweiten Proteste, die sich lose gegen rechts richten, müssen den Kampf gegen Kürzungen und für antirassistische Forderungen aufnehmen. Dazu müssen wir innerhalb dieser Proteste eine klare Position vertreten, die Rassismus – nicht nur bei den Rechten, sondern auch bei den Regierungsparteien und auch innerhalb der Mobilisierung – entlarvt. Denn gegen die AfD zu sein, reicht schon lange nicht mehr und löst weder das Problem mit dem Rassismus, noch mit der Demokratie. Wir müssen als ein klarer, internationalistischer und antikapitalistischer Pol auftreten und letztendlich für bundesweite Aktionsbündnisse plädieren. Nur so können wir verhindern, dass wir vereinzelt in unseren Städten und Orten kämpfen, und stattdessen geeint gegen die kommenden Krisen, Kürzungen und Anfeindungen vorgehen. Damit diese Bewegungen verstehen, dass ohne uns Migrant*innen und Geflüchteten kein Kampf erfolgreich sein kann, und damit das Vertrauen in solche Bewegungen seitens migrantischer und geflüchteter Gruppen zurückkehrt, sind folgende Forderungen unabdingbar:
- Staatsbürger*innenrechte für alle! Bleiberecht geht nicht weit genug und ermöglicht es nicht, gleiche Rechte für jeden Menschen fordern zu können. Freie Wahl des Aufenthalts und Wohnortes in ganz Europa!
- Offene Grenzen und sichere Fluchtrouten! Das europäische Grenzregime muss zerschlagen werden, denn die europäischen Grenzen sind ein Massengrab.
- Gegen alle Abschiebungen! Gegen alle Vorgehen, Menschen ihre Staatsbürger*innenschaft abzuerkennen!
- Für demokratisch organisierte antirassistische Selbstverteidigungsstrukturen, kontrolliert durch Gewerkschaften, zum Schutz von Demos, Veranstaltungen und Geflüchtetenunterkünften!
Lasst uns dem entgegenwirken! Lasst uns eine Bewegung aufbauen, die diese Forderungen klar aufgreift, wo sie notwendig sind, die sich organisiert und gemeinsam kämpft – von den Betrieben über die Shisha-Bars bis hin zu den Universitäten, Ausbildungsstätten und Schulen! Gerechtigkeit wird uns niemand geben – wir müssen sie uns selbst erkämpfen!