Präsidentschaftswahlen im Iran: Keine Stimme für das Regime

Gastbeitrag

Solidarity with the people of Iran, Vancouver

Die Debatte im Iran lebt. Wie auch in den Jahren zuvor. Im Bazar, unter Freund*innen, im Taxi, auf der Arbeit. Iraner*innen im Land diskutieren, denn das Leben im Iran ist nie nicht politisch. 

Nach dem Unfalltod des Staatspräsidenten Ebrahim Raisi waren die Menschen im Land am 28.6.2024 aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Dem Aufruf folgten lediglich knapp 40%, so wenige wie noch nie zuvor in der Geschichte der Islamischen Republik. Die offiziellen Zahlen erhöhten sich bei der Stichwahl am 5.7.2024 auf knapp 50% abgegebene Stimmen. Der Arzt mit kurdischen und AzeriWurzeln, Masoud Pezeshkian, gewann gegen seinen finalen Kontrahenten, Saeed Jalili mit knapp 55% und einem Abstand von 2,7 Millionen der gültigen Stimmen.

Frauen sind im Iran als Präsidentschaftskandidatinnen nicht zugelassen. Die Kandidaten werden alle vorab ausgewählt, Pezeshkian war der einzig zugelassene Kandidat, der trotz seiner Loyalität gegenüber Ali Khamenei (dem geistlichen Staatsoberhaupt des Iran und finale Entscheidungsmacht) wagte, zaghafte Lockerungen und eine Öffnung gegenüber dem Westen zu propagieren. Dies ist ein starker Kontrast zu seinem finalen Kontrahenten Jalili, der Khameneis brutale und konservative Linie nur doppelt und dreifach bestärkt hätte. Westliche Medien berichten gerne über „Reformer“ gegen „Hardliner“-Kandidaten, womit die Realität sowohl der politischen Linie der Kandidaten als auch der Wahlen an sich verkannt wird. „Stimme ohne Stimme“, „Die Zukunft wird alle, die wählen, als verräterische Minderheit in Erinnerung behalten“, „Wählen bedeutet kein Sturz“ „Wählen bedeutet, die Weichen für eine Zukunft weiteren Blutvergießens zu stellen und die kämpferische Jugend zu verraten“ – diese und andere Slogans sind Aussagen, die man vor, während und nach der Wahl immer noch von einer Mehrheit im Iran liest, die sich durch alle Ethnien und fast alle Teile der Gesellschaft zieht.

Es wäre wahrscheinlich eine zu hohe Erwartungshaltung an westliche Medien, sie sollten genauer hinsehen, wenn man bedenkt, dass jene Medien mehrheitlich dem liberalen Sektor zuzuordnen sind. Mehr als liberal ist auch der neu gewählte Präsident Pezeshkian nicht. Die Wahl eines liberalen Kandidaten, der sich vorsichtig und im Rahmen des engen politischen Korsetts der Islamischen Republik Iran für Lockerungen bei der Hijab-Pflicht und eine Annäherung an den Westen, z.B. bezüglich des Atomprogramms, ausspricht, ist eine Strategie dieses Systems und der Versuch, das System zu legitimieren. Das Image soll nach dem Zan-Zendegi-Azadi-Aufstand (Frau, Leben, Freiheit) der Bevölkerung 2022 poliert werden. Wenig überraschend also, dass liberale Medien und auch Regierungen sich über den Sieg des „Reformers“ freuen und es weniger um Details als um Geschäfte geht. Gleichwohl soll nicht unterschlagen werden, dass eine Wahl Jalilis tatsächlich das größere Übel gewesen wäre. Das Resultat bleibt aber gleich: Die Mehrheit der Menschen ist im Boykott.

Dabei sind Wählerstimmen auch dynamisch. Immer mehr zeigt sich eine Unzufriedenheit bei den Menschen, die seit Jahren konservativ wählen und immer noch loyal sind. Desillusionierung und Apathie auf allen Seiten sind stark gestiegen. Revolutionsführer und geistliches Staatsoberhaupt Ali Khamenei wollte das System der Islamischen Republik nicht nur nach außen legitimeren, sondern dank eines hohen Wahlaufkommens auch von innen bestätigt wissen. Die niedrige Wahlbeteiligung zeigt jedoch: Loyalität und Rückhalt sind stärker denn je eingebrochen. Es gab Aufrufe aus Frauengefängnissen und von Arbeiter*innen im ganzen Land, nicht wählen zu gehen. Die gesamte Zan-Zendegi-Azadi-Bewegung rief zum Boykott auf. Die wenigen Menschen, die gewählt haben, haben dem System dadurch mehr Zeit geschenkt. Die Lohnabhängigen, die vom Regime politisch, sozial und ethnisch Unterdrückten, die Frauen und die Jugend können sich in ihrem Kampf um Freiheit, soziale Sicherheit und Frieden auf keinen Präsidenten verlassen.

Nichtsdestotrotz zeugt die lebendige Debattenkultur im Land von mehr Demokratiebewusstsein als jegliche Machtstruktur innerhalb einer Islamischen Republik je zulassen würde. Das Ziel der Mehrheit der Menschen im Iran ist und bleibt der Sturz des Regimes und des gesamten Systems. Für diesen werden aber keine Wahlboykotts ausreichen. Wie wir beim Arabischen Frühling gesehen haben, können auch spontane, führungslose Bewegungen wie die um Zan Zendegi Azadi ihn trotz ihrer gesellschaftlichen Breite nicht bringen. Sie verpuffen entweder nach einer Niederlage oder können einem konterrevolutionären Gegenschlag nicht standhalten. Stattdessen braucht es auf der bestehenden Bewegung aufbauend eine Organisation der Arbeiter*innen und der Unterdrückten, die auf der Basis eines revolutionären Programms der Unzufriedenheit im Land politischen Ausdruck verleihen und den Kampf für eine befreite, sozialistische Gesellschaft anleiten kann. Dafür braucht es die Unterstützung der internationalen Arbeiter*innenbewegung, die Ressourcen und Möglichkeiten zur illegalen Organisierung zur Verfügung stellen muss – für einen befreiten Iran, für eine befreite Welt!