Warum wir Revolutionär*innen sind

Illustration von Jacob Burck, zugeschnitten

Die Frage „Reform oder Revolution“ ist nicht erst seit vorgestern eine Frage, die die Linke und die Arbeiter*innenbewegung sowie Befreiungsbewegungen weltweit beschäftigt. Viel ist dazu geschrieben und diskutiert worden. Wir denken, dass auch im 21. Jahrhundert eine revolutionäre Strategie und Methode zentral sind. Angesichts des menschengemachten Klimawandels und der Umweltzerstörung allgemein denken wir sogar, dass eine revolutionäre Antwort auf das herrschende kapitalistische System heute so wichtig ist wie kaum zuvor. Im Folgenden wollen wir die grundlegenden Herangehensweisen darlegen, warum und auch wie wir zu einer revolutionären Antwort auf Kapitalismus und Krise kommen können.

Herrschaftsstrukturen und ihre Grundlage

Die Entstehung von Klassen, Staaten, Ausbeutung und systematischer Unterdrückung sind historisch eng miteinander verknüpft. In manchen Teilen der Welt hat der Prozess der Entstehung staatlicher Macht schon vor tausenden von Jahren stattgefunden – eindrucksvolle Denkmäler wie die Pyramiden für die ägyptischen Pharaonen oder das Mausoleum Qín Shǐhuángdìs mit seinen berühmten Terrakotta-Kriegern sind noch heute Zeugen davon. In anderen ist die Errichtung staatlicher Macht erst ein Produkt des modernen Kolonialismus und wenige hundert Jahre alt. Dabei ist klar, dass wir über die längste Zeit menschlicher Geschichte ohne Staaten ausgekommen sind. Wichtig festzuhalten ist, dass Staaten mit den damit einhergehenden Dingen wie Zwangsgewalt, Armee/Polizei und Gesetzen ein konkretes historisches Phänomen und aus konkreten historischen Umständen und Notwendigkeiten heraus entstanden sind. Sie sind keine überhistorische Notwendigkeit der menschlichen Existenz oder gar ein Produkt der „Natur des Menschen“.

Es gibt kein Naturgesetz, das besagt, dass menschliche Gesellschaft und menschliches Zusammenleben staatlich organisiert sein müssen. Wir wollen uns hier nicht mit den unterschiedlichen Mechanismen (bspw. die Verteilung von Essen bei großen Festen, die Organisierung von gemeinschaftlichen Bauprojekten oder die Etablierung einer dauerhaften und ortsgebundenen Priesterklasse als einzige Vermittlerin zwischen dem einfachen Volk und dem Jenseitigen) beschäftigen, die dazu führen können dass sich ein Teil der Gesellschaft über den Rest erheben kann. Viel wichtiger ist, dass die Notwendigkeiten davon, dass die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere aufrechterhalten wird, solche Prozesse verstetigen und normalisieren. Dauerhafte Ausbeutung braucht nicht eine Zwangsgewalt, um die herrschende Ordnung gegen Invasion von außen und Aufstand von innen aufzuhalten, sondern sie muss auch eine Ideologie hervorbringen, die die Ausbeutung „natürlich“, gottgegeben oder notwendig erscheinen lässt.

Staaten haben in ihrer Geschichte fast immer versucht so zu wirken, als würden sie neutral über der Gesellschaft stehen. Das trifft sowohl auf Staaten zu, die wir heute als alles andere als neutral ansehen würden wie die Monarchien des Mittelalters, aber genauso auch auf solche, die heute den meisten Menschen wirklich als neutral erscheinen wie moderne demokratische Republiken. Doch genauso wenig, wie der von Gott eingesetzte König neutral über Adel, Klerus, Bürger*innentum und Bäuer*innenschaft herrschte, ist auch der moderne kapitalistische Staat kein neutraler Akteur gegenüber den Interessen unterschiedlicher Klassen.

Der ideelle Gesamtkapitalist

Nichtsdestotrotz ist der bürgerliche Staat im Normalfall kein direktes Werkzeug der einen oder anderen Kapitalist*in (auch wenn es hier durchaus Ausnahmen gibt). Vielmehr sorgt ein „gut funktionierender“ bürgerlicher Staat dafür, dass die Ausbeutungsbedingungen als Ganze erhalten bleiben bzw. verbessert werden. Das kann beispielsweise auch dazu führen, dass gegen die Einzelinteressen jede*r Kapitalist*in eine Beschränkung der Arbeitszeit eingeführt wird. Prinzipiell könnte jede*r Kapitalist*in das auch aus eigener Initiative im eigenen Betrieb umsetzen, aber solange nicht alle Kapitalist*innen gleichermaßen dazu gezwungen sind, die Arbeitszeit zu beschränken, hat jede*r Kapitalist*in, die es einführt, einen Wettbewerbsnachteil. In so einer Situation kann der bürgerliche Staat die Gesamtinteressen der herrschenden Klasse vertreten. Es kann beispielsweise zu einer Situation kommen, in der das Proletariat aufgrund extrem langer Arbeitszeiten in seiner grundlegenden Fähigkeit, sich selbst (also nicht nur heute und morgen sondern auch noch in zehn Jahren ein*e produktive Arbeiter*in zu sein) und die arbeitende Klasse (also auch Nachkommen zu produzieren und großzuziehen, die auch produktive Arbeiter*innen sein können) zu reproduzieren, beschränkt ist. In so einer Situation kann der bürgerliche Staat sich gegen die Einzelinteressen der Kapitalist*innen durchsetzen und ihr gemeinsames Gesamtinteresse vertreten. Engels bezeichnete deshalb den bürgerlichen Staat auch als „Ideellen Gesamtkapitalisten“.

Als solcher ist der bürgerliche Staat eben kein unmittelbarer Befehlsempfänger der Kapitalist*innen, sondern ein Werkzeug zur Erhaltung der Ausbeutungsbedingungen als Ganzes. In der Geschichte gab es immer wieder Situationen, in denen der bürgerliche Staat sich gegen Kapitalist*innen – manchmal sogar gegen ihre Mehrheit – durchsetzte. Das können wir beispielsweise bei der Politik des New Deal der US-Regierung nach der Weltwirtschaftskrise 1929 oder aber auch in der Verstaatlichungspolitik der österreichischen Regierung nach dem 2. Weltkrieg sehen. In beiden Fällen wurde Maßnahmen getroffen, um den Kapitalismus als Ganzen abzusichern. Oftmals war das auch verbunden mit Druck durch die Arbeiter*innenklasse, aber es ging doch deutlich über unmittelbar notwendige Zugeständnisse hinaus. Im Falle von Österreich stellte beispielsweise die verstaatlichte Industrie dem Kapital billige Vorprodukte zur Verfügung, damit diese sich auf Weltmarkt (bzw. auf dem europäischen Markt) durchsetzen konnte.

Friedrich Engels macht aber einen weiteren wichtigen Punkt. „[D]ie Verwandlung in […] Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte [nicht] auf. […] [D]er moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.“[1]

Einfach nur Verstaatlichen hebt also die Kapitalverhältnisse nicht auf. In fast jedem kapitalistischen Land dieser Welt gibt es Tätigkeiten, die staatlich organisiert werden – seien es die Müllabfuhr, Krankenhäuser oder Schulen. Die öffentliche Eigentumsform allein ist aber nicht ausreichend dafür, dass es sich auch schon um eine Form sozialistischen Eigentums handeln würde. Zentral für den Kapitalismus sind nämlich nicht nur die Eigentumsverhältnisse (wer die Produktionsmittel besitzt), sondern auch Markt und Wettbewerb als ordnende Mechanismen der Produktion. Rosa Luxemburg legt beispielsweise in ihrer zentralen Auseinandersetzung mit Eduard Bernstein diesen Gedanken in Bezug auf die Idee von Genossenschaften im Kollektiveigentum, die sich aber noch in einem kapitalistischen Markt zurechtfinden müssen, deutlich dar:

„Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im Kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalistischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht, angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d.h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst.“

Selbstverwaltung, kollektive Betriebe und Genossenschaften können deshalb immer nur eine temporäre Lösung innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft sein. Ein langsames und stetiges Anwachsen kollektiver Eigentumsformen im Kapitalismus selbst ist eine Illusion, unterwirft doch der Markt auch kollektive Betriebe den Regeln des Wettbewerbs und der Selbstausbeutung. Sozialistische Eigentumsformen können deshalb nur so eingeführt werden, wenn das Proletariat es schafft, die staatliche Macht der Kapitalist*innen durch ihre eigene (halb)staatliche Macht zu ersetzen und mit einem Mal die Verstaatlichung und Selbstverwaltung einzuführen. Aber dazu später mehr.

Zwangsgewalt und Staat

Staaten machen nicht nur Regeln –fast wichtiger – sie setzen diese Regeln auch durch. Ein essentielles Element für moderne Staaten ist die Schaffung eines Gewaltmonopols sowie bewaffneter Verbände (Polizei, Militär, u.ä.), um dieses Gewaltmonopol im Staatsgebiet (bzw. im Falle des modernen Imperialismus auch oft außerhalb davon) durchzusetzen. Diese „besondere Formation bewaffneter Menschen“ wie Lenin in Anschluss an Engels meint, ist für Marxist*innen der wesentliche Ausdruck der Staatsgewalt und auch in letzter Instanz der entscheidende Teil des Staates. In modernen bürgerlichen (Sozial-)Staaten gibt es meistens sehr große Teile, die nicht unmittelbar mit der Ausübung von Gewalt beschäftigt sind. Aber es gibt keine Staaten, die ohne eine solche Gewalt auskommen.

Es ist auch kein Zufall, dass sowohl Armee wie auch Polizei im Normalfall weder gewählt werden noch in irgendeiner Form wirklich einer demokratischen Kontrolle unterliegen. Es ist genauso wenig Zufall, dass in fast allen Staaten die Spitzen von Militär und Polizei zu den reaktionärsten und rechtesten Teilen der Gesellschaft gehören. Das wirkt sich auch meistens bis in die unteren Ränge aus.

Wie schon erwähnt sind die Organe der staatlichen Zwangsgewalt essentiell, um die bürgerliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Jeden Tag sind sie damit beschäftigt, die Regeln der herrschenden Ordnung zu verteidigen. Oftmals kommt das ohne unmittelbare direkte körperliche Gewalt aus und die Drohung dazu genügt. Das gilt aber nicht im selben Ausmaß für Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung einer gesellschaftlichen Unterdrückung unterliegen. Insbesondere Rassismus ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass Menschen eben nicht nur „normale“ Erfahrungen mit Polizei und Armee machen, sondern eben oftmals auch nackter Gewalt ausgesetzt sind. Dasselbe trifft oftmals auch auf die (städtische) Armut – insbesondere wohnungslose Menschen oder Menschen in Favelas und Slums – zu.

Staat und Ideologie

Wenn Marxist*innen vom bürgerlichen Staat als Diktatur der Bourgeoisie sprechen, meinen wir damit nicht, dass seine Herrschaft nur durch nackte Gewalt aufrechterhalten wird – genauso wenig wie in den meisten Diktaturen. Vielmehr geht es darum, Gewalt gegen eine Minderheit als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Insbesondere seit dem 11. September 2001 wird das auch gerne mit dem Vorwurf des Terrorismus verbunden. Heute sehen wir beispielsweise, dass sogar harmlose Klimaaktivist*innen mit dem Label des „Klimaterrorismus“ versehen werden, um ihre politische Unterdrückung zu rechtfertigen.

Allgemein spielt bürgerliche Ideologie eine wesentliche Rolle bei der (friedlichen) Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems. Ideologie kann dabei sehr vielschichtig sein und reicht von „klassischen“ Formen der sozialen Unterdrückung wie Rassismus oder Sexismus über diverse Formen der Religion zur „Natürlichkeit“ von Kapitalismus und Parlamentarismus. Die diversen bürgerlichen Ideologien sind dabei ein natürliches Produkt menschlicher Gesellschaft, wie Marx und Engels schon im kommunistischen Manifest bemerkten: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“

Doch Ideologie alleine reicht nicht aus, um den Kapitalismus aufrecht zu erhalten. Vielmehr ist die Paarung mit Gewalt immer ein essentieller Bestandteil. In „normalen“ Zeiten ist das oft der Fall und Gewalt wird nur gegen die Menschen „am Rande“ der Gesellschaft angewandt. Der Kapitalismus produziert aber aus sich selbst heraus einen Klassenwiderspruch und Krisen, deshalb sind die Organe der staatlichen Zwangsgewalt immer präsent und werden in Zeiten der Zuspitzung der Klassengegensätze oftmals deutlich aufgerüstet.

Demokratie und Kapitalismus

Die bürgerlichen Revolutionen (1789, 1848, etc.), die dem Feudalismus den Todesstoß versetzten, versprachen den Menschen Gleichberechtigung und Demokratie. In Ländern wie Österreich wurde die demokratische Republik erst vollständig durch eine vom Proletariat getragene Revolution 1918 verwirklicht. Auf eine gewisse Art und Weise ist die demokratische Republik die optimale Organisationsform des Kapitalismus. Das gilt aber nur insofern es sich dabei um imperialistische Zentren handelt.

Demokratie ist im Kapitalismus nämlich nur aufgrund der imperialistischen Extraprofite der Ausbeutung des globalen Südens möglich. Ein dauerhaftes demokratisches System ist ein „Luxus“ den sich der Kapitalismus nur dort leisten kann, wo er nicht nur die „eigene“ Arbeiter*innenklasse ausbeutet, sondern von globaler Ausbeutung von Arbeitskraft und Natur zusätzlich profitiert. Und das gilt auch nur wenn es die innenpolitische Situation zulässt. Seit einiger Zeit müssen sogar bürgerliche Thinktanks den globalen Rückgang an (bürgerlicher) Demokratie feststellen.

In den letzten Jahren – insbesondere seit der Präsidentschaft Joe Bidens – haben wir außerdem auch eine sich zuspitzende ideologische Auseinandersetzung zwischen „Demokratie“ und „Autoritarismus“ erlebt. Damit einhergegangen ist eine Verteidigung der „eigenen“, „demokratischen“ Bourgeoisie durch viele Linke. Dabei kann eine Verteidigung der „regelbasierten Ordnung“ oder der „demokratischen Werte“ des Westens nur durch das globale Ausbeutungsregime des Imperialismus aufrechterhalten werden. Wir treten zwar auch für die Verteidigung und auch die Ausweitung demokratischer Rechte und Freiheiten (Versammlungsfreiheit, Wahlrecht für alle, etc.) ein, aber nicht, weil wir „die Demokratie“ an sich verteidigen wollen, sondern weil wir den Kampf für demokratische Rechte mit einem Kampf gegen den Kapitalismus als solches verbinden wollen. Wer eine Seite des Imperialismus (in diesem Fall EU und USA) gegen die andere Seite (Russland, China) verteidigt, verteidigt letztlich nur das globale Ausbeutungsregime des Imperialismus, denn nur durch die neokoloniale Ausbeutung des globalen Südens ist „die Demokratie“ „im Westen“ überhaupt möglich.

Der bürgerliche Staat als Klassenstaat

Seit jeher gibt es Teile der Arbeiter*innenbewegung, die nicht den Sturz des Kapitalismus zum Ziel haben, sondern entweder seine langsame Verbesserung durch Reformen oder gar seine Überwindung durch beharrliche reformistische Politik als Ziel hatten. Schon früh gab es eine Auseinandersetzung zwischen revolutionären Linken und dem nach rechts gehenden Reformismus, beispielsweise in der Auseinandersetzung im sogenannten Revisionismusdebatte. Hier stellte Eduard Bernstein, ein wichtiger Vordenker der späteren reformistischen Ausrichtung der Sozialdemokratie, sich schon früh entschieden gegen eine Sicht des Staates als Klassenstaat. Vielmehr ginge es darum „für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten.“[2] (Hervorhebung im Original)

Die Abschaffung des Kapitalismus wurde von einer revolutionären Erhebung im Zuge einer gesellschaftlichen Krise zu einem langen Prozess um die Umgestaltung des Staatswesens. Rosa Luxemburg antwortete ihm auf seine Positionen in ihrem berühmten Text „Sozialreform oder Revolution“. Sie stellte klar, dass Reformen immer dem Ziel der Revolution untergeordnet werden müssen: „Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft […].“

Auch heute treten unterschiedliche Linksreformist*innen in die Fußstapfen von Bernstein (auch wenn sie sich gedanklich lieber bei Luxemburg sehen wollen). In dem, was wir als „Transformationstheorie“[3] bezeichnen würden, stützen sich wichtige Teile der Europäischen Linken (beispielsweise die Rosa-Luxemburg-Stifung oder transform! europe) auf eine Ablehnung der marxistischen Sicht des Staates als Klassenstaat. Vielmehr wird – angelehnt an Theoretiker*innen wie Nicos Poulantzas – der Staat zum Kampffeld erklärt: „Das innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung ‚effektiver Brüche’, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig ein solcher Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt.“[4]

Auch wenn sich hier die Theorie bewusst vom klassischen Reformismus abgrenzen möchte und schon als klares Ziel die Abschaffung (bzw. Transformation) des Kapitalismus zum Ziel hat, unterscheidet sich die Praxis doch recht wenig von der des klassischen Reformismus. Wenn wir beispielsweise auf die Erfahrungen der SYRIZA[5]-Regierungen in Griechenland schauen, sehen wir sehr deutlich, dass, wenn Transformationstheoretiker*innen real die Macht im bürgerlichen Staat ausüben, sich ihre Praxis wenig von jener der Sozialdemokratie unterscheidet. In Griechenland erlebten wir unter der Führung von SYRIZA einen massiven Angriff auf den Lebensstandard der Massen und die Umsetzung massiver Sparpakete. Wir sehen also, dass bei aller Betonung des Unterschiedes von Transformationstheorie und klassischen (sozialdemokratischen) Reformismus, sich die Praxis doch recht wenig unterscheidet.

Aber auch in der Theorie gibt es große Schwächen. Was nämlich die Idee von einem in die Länge gezogenen Transformationsprozess des bürgerlichen Staates übersieht, ist die Tatsache, dass es sich bei Reform und Revolution um essentiell unterschiedliche Momente handelt. Ein zeitlich in die Länge gezogener Transformationsprozess sieht vor, dass über einen langen Zeitraum die Kapitalist*innen entweder dabei zusehen werden oder durch die Macht der Arbeiter*innenklasse daran gehindert werden, Faschismus oder Konterrevolution zu mobilisieren. Das übersieht, dass es in zeitlich gedrängten gesellschaftlichen Momenten (im Marxismus wird so eine Entwicklung traditionell als revolutionäre Situation beschrieben) unmittelbar darum geht, welche Klasse die Macht ergreifen und ausüben kann. Wenn das Proletariat nicht in einer Revolution die Macht ergreift, wird nicht nur die Konterrevolution ihr Haupt erheben, sondern werden auch die Kräfte der Revolution selbst demoralisiert und desorganisiert.

Die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und die Überwindung des Kapitalismus

Wenn wir den bürgerlichen Staat als Klassenstaat sehen und als Werkzeug, die bürgerliche Ordnung aufrecht zu erhalten, ergibt sich natürlich die Frage, wie wir mit ihm umgehen wollen. Als revolutionäre Marxist*innen ist unser strategisches Ziel, den bürgerlichen Staat zu zerschlagen und durch Machtorgane der Arbeiter*innenklasse zu ersetzen. In der Geschichte waren der praktische Ausdruck dafür zumeist Räte. Auch in Österreich gab es zum Ende des 1. Weltkriegs eine starke Rätebewegung, die aber von der Sozialdemokratie leider in den Niedergang geführt wurde. Schon Marx erkannte die zentrale Bedeutung der Zerschlagung des bürgerlichen Staates. Aus den Erfahrungen der Pariser Kommune 1871 schloss er, dass „die Arbeiterklasse […] nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen [kann].“

Vielmehr braucht es außerhalb des bürgerlichen Staates entstehende Machtorgane der Arbeiter*innenklasse, die die Grundlage für einen proletarischen Halbstaat legen. Halbstaat nennen wir es in Anlehnung an Lenins „Staat und Revolution“ weil der proletarische (Halb-)Staat auf der einen Seite wichtige Wesenszüge aller bisherigen Staaten trägt, wie beispielsweise die Organisierung der Unterdrückung der Bourgeoisie und der Konterrevolution, praktische Organisierung einer Armee, etc. Auf der anderen Seite weist eine proletarische Räterepublik wichtige Wesenszüge auf, die sie von allen bisherigen Staaten unterscheidet, wie beispielsweise, dass sie nicht zur Aufrechterhaltung eines Ausbeutungsregimes oder im Interesse einer Minderheit der Gesellschaft dient. Ziel muss auch sein, dass dieser Staat abstirbt und sich nicht – wie in seiner stalinistischen Entstellung – ausweitet.

Die Überwindung des bürgerlichen Staates und die Errichtung eines proletarischen Halbstaates ist aber nicht nur notwendig, um sich unmittelbar gegen die Konterrevolution zu verteidigen. Sie ist auch ein zentrales Mittel zur Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Weiter oben haben wir Rosa Luxemburgs Argument dargelegt, dass auch embryonale sozialistische Eigentums- und Produktionsformen (verstaatlichtes oder kollektives Eigentum) sich langfristig der kapitalistischen Marktlogik unterordnen müssen, sofern der kapitalistische Markt der dominante Wirtschaftsfaktor bleibt. Für die Abschaffung des Kapitalismus ist es deshalb notwendig, „auf einen Schlag“ alle wichtigen Unternehmen und Betriebe unter Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innen zu stellen und nach einem demokratischen Plan zu organisieren. Nur so können die nicht-personalisierte kapitalistische Marktlogik sowie die persönliche Macht der Kapitalist*innen überwunden werden.

Das unterscheidet die Errichtung des Sozialismus auch unmittelbar von der Errichtung des Kapitalismus. Jahrhundertelang konnten bürgerliche Eigentums- und Produktionsformen (insbesondere das Handelskapital, kleine Manufakturen oder frühes Bankwesen) in der feudalen Gesellschaft entstehen und heranreifen, eben weil der Feudalismus nicht wie der Kapitalismus sich vollständig alle Formen der Produktion unterwirft. Die bürgerlichen Revolutionen wie beispielsweise in Frankreich setzten politisch das um, was wirtschaftlich schon Realität war. Das ist bei der proletarischen Revolution grundlegend anders. Hier schafft der politische Akt (Errichtung einer Räterepublik und Zerschlagung des bürgerlichen Staates) erst die Voraussetzung für die Eroberung der politischen macht.

Übergangsmethode und Doppelmacht

Doch Notwendigkeit der Revolution beantwortet nicht unmittelbar das dialektische Verhältnis von Reform und Revolution. Wir lehnen den Kampf für Reformen nicht ab, vielmehr erkennen wir seine dringende Notwendigkeit. Was wir ablehnen, ist aber die Trennung des Kampfes für Reformen vom grundlegenden Ziel der revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Wer denkt, Reformen alleine (und seien sie noch so radikal) könnten den Kapitalismus überwinden, wird notwendigerweise den Weg der Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts gehen.

Was es stattdessen braucht, ist die Verbindung von Revolution und Reform. Wir sehen das am besten verwirklicht in der Übergangsmethode. Wir meinen damit Übergangsforderungen, die eine Brücke schlagen zwischen dem aktuellen (reformistischen) Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse und der Notwendigkeit eines revolutionären Antikapitalismus. Diese Forderungen sind nicht schon an sich Forderungen des Sozialismus selbst wie beispielsweise die Abschaffung des Geldes oder des Eigentums an Produktionsmitteln. Sie sind aber auch keine Forderungen, die die grundlegenden Mechanismen des Kapitalismus unberührt lassen wie beispielsweise Arbeitszeitverkürzung oder Lohnerhöhungen. Zentral in der Übergangsmethodik ist auch immer die Frage, welche Klasse die Macht ausübt. Wenn es beispielsweise um die ökologische Frage geht, fordern wir nicht eine Lösung der Klimakrise durch Marktmechanismen (wie eine CO2-Steuer oder eine Förderung für ökologisches Wirtschaften von Unternehmen), weil sie grundlegend die Macht bei den Kapitalist*innen belassen und den Kapitalismus nicht in Frage stellen. Wir fordern stattdessen die Enteignung aller klimaschädlichen Konzerne unter Kontrolle der Beschäftigten und einen demokratisch entschiedenen Plan zur Transformation der Industrie. Das Herzstück ist auch hier, welche Klasse die Macht in der Gesellschaft ausübt. Grundsätzlich ist unsere Methode, dass wir einfache Vorformen von Räten in unsere Programmatik ins Zentrum rücken. Bei Streiks fordern wir demokratische Streikkomitees, damit die Kontrolle über den Streik nicht bei der Gewerkschaftsbürokratie liegt. Im antifaschistischen Kampf fordern wir Selbstverteidigungskomitees, damit wir uns nicht auf die reaktionäre Polizei verlassen müssen. Und im Kampf gegen steigende Mieten treten wir für Mieter*innenkomitees ein. In zugespitzten Situationen des Klassenkampfs können aus diesen embryonalen Formen der Doppelmacht dann echte Räte entstehen, die die Macht des bürgerlichen Staates direkt herausfordern. „Alle Macht den Räten“ wird dann zur unmittelbaren Forderung der proletarischen Revolution.


[1]     Engels, F.: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ in Karl Marx/Friedrich Engels-Werke Band 20, Berlin/Ost [Dietz] 1962, S. 260

[2]     Eduard Bernstein „Zusammenbruchstheorie und Colonialpolitik“ zitiert nach https://www.marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1898/xx/colonial.html (abgerufen 4.1.2024)

[3]     Auch andere Begriffe wie „radikaler Reformismus“ oder „revolutionäre Realpolitik“ werden gerne gewählt.

[4]     Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, VSA Verlag, Hamburg, 2002. Originalausgabe: Paris, 1977, S. 286 f

[5]     Es ist wohl kein Zufall, dass der parteinahe Think Tank von SYRIZA nach Nicos Poulantzas benannt ist.