Millionen Geflüchtete, tausende Tote, ein Land im Zentrum der Geopolitik. Mit der russischen Invasion Ende Februar wurde die Ukraine in den Mittelpunkt des Weltgeschehens geworfen. Mit Entsetzen sehen wir täglich die Bilder des Leids und des Horrors in den Zeitungen. Viele sind dazu auch noch praktisch tätig geworden und haben Geflüchtete aus der Ukraine unterstützt. Ein Krieg so nahe, ein Krieg in Europa, für die meisten Menschen in Österreich ist das (trotz Jugoslawien) eine sehr neue Situation – weniger für unsere syrischen oder afghanischen Freund*innen. Umso wichtiger ist es, jetzt, da der Krieg schon seit fast zwei Monaten anhält, sich mit seinen Hintergründen zu beschäftigen und zu versuchen eine angemessene Einschätzung der Lage zu entwickeln.
Ukrainische Unabhängigkeit
Um die aktuelle politische Situation verstehen zu können, muss man sich mit der Ukraine als modernen Nationalstaat auseinandersetzen. Die moderne Ukraine ist – wie viele andere osteuropäische Staaten auch – ein Produkt des Kollapses der Sowjetunion. Es existierten zwar im Zuge des russischen Bürger*innenkrieges mehrere kurzlebige Staaten oder staatsähnliche Gebilde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine (nur eine Minderheit beanspruchte dabei eine dezidiert ukrainische Identität), aber ab 1922 war die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der neu gegründeten Sowjetunion. Eine ausführliche Geschichte des ukrainischen Nationalismus, insbesondere seine Anbiederung unter Stepan Bandera an den Nationalsozialismus werden wir hier nicht machen können, an dieser Stelle sei nur nochmal auf die Entstellung sowohl von westlicher Seite wie auch von russischer Seite hingewiesen. Die Ukraine ist weder eine seit Jahrhunderten bestehende Nation, die historisch um das christlich-orthodoxe Kiew zentriert war, noch ist sie eine Erfindung von Lenin und den Bolschewiki. Wie viele andere europäische Nationen ist sie ein Produkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, komplexer sich -verändernder Grenzziehungen im 20. Jahrhundert und insgesamt alles andere als ethnisch oder sprachlich sauber abgegrenzt.
Auch heute bezieht man sich noch gerne auf das Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991. Damals stimmten 92,3 % der Ukrainer*innen (bei einer Wahlbeteiligung von 82 %) für die Unabhängigkeit der Ukraine. Doch so einfach ist die Sache nicht: einerseits war die Unabhängigkeit schon im August erklärt worden, als Reaktion auf den Augustputsch konservativ-stalinistischer Generäle in Moskau, andererseits war es nicht das einzige Referendum in diesem Jahr. Im März hatten sich bei einem Sowjetunion-weitem Referendum 71,5 % der Ukrainer*innen (WB 83,5 %) für einen Erhalt bzw. eine Reform der Sowjetunion ausgesprochen. Gleichzeitig wurde auch hier darüber abgestimmt, ob die ukrainische Teilrepublik Bestandteil dieser neuen Sowjetunion auf „Basis der Erklärung der staatlichen Souveränität“ werden sollte – das brachte 81,7 % Zustimmung. Diese drei Abstimmungen zeigen zwei Dinge sehr deutlich: Einerseits, dass die Verhältnisse damals, das nationale Selbstverständnis, dessen Auslegung in der Praxis, sehr kurzlebig und wandelbar waren. Die Ereignisse überschlugen sich damals ja nicht nur in der Ukraine, sondern auch im russischen Teil der Sowjetunion und in fast allen Teilrepubliken. Andererseits ist eine Sache sehr eindeutig abzuleiten, nämlich das Bedürfnis nach nationaler Unabhängigkeit der Ukraine (auch wenn das bedeutet ein eigenständiger Teil einer neuen Sowjetunion zu werden, wie Anfang 1991 abgestimmt). Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass das Ergebnis der Unabhängigkeitsabstimmung im Dezember 1991 alles andere als eine territoriale Homogenität repräsentierte. Beispielsweise ging das Ergebnis auf der Krim nur sehr knapp für die Unabhängigkeit aus, bei gleichzeitig deutlich unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung.
Demografie der Ukraine
Seit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 gab es nur eine einzige erfolgreich durchgeführte Volkszählung. Die Volkszählung aus dem Jahr 2001 ist nun zwar schon mehr als zwei Jahrzehnte alt, aber trotzdem die mit Abstand umfangreichste Feststellung von Muttersprache und ethnischer Zugehörigkeit. Hier zeigt sich sehr deutlich die Heterogenität der Ukraine. Bevor man sich die Zahlen, die hier so klar getrennt erscheinen, ansieht, sollte man aber bedenken, dass ein großer Teil der Ukrainer*innen zweisprachig lebt und deshalb eine klare Aufteilung auf dem Fragebogen einer Volkszählung einiges an Komplexität verbirgt.
Im Süden und Osten der Ukraine lebt eine relevante russischsprachige Minderheit an Ukrainer*innen (insgesamt ungefähr ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung), andererseits gibt es darüber hinaus auch noch eine relevante russische ethnische Minderheit (nach der Volkszählung 2001 waren das 17 %). Wichtig ist hierbei, dass diese beiden Gruppen nie deckungsgleich waren und es vermutlich heute weniger denn je sind – der russische Muttersprachler und heutige Präsident Zelensky ist hierfür eine gute Illustration. Die ethnischen Russ*innen sprechen zwar fast ausschließlich Russisch, aber bei weitem nicht alle Russisch sprechenden Menschen in der Ukraine verstehen sich als russisch. Es lässt sich davon ausgehen, dass der abnehmende Trend von Menschen, die Russisch sprechen und sich auch als russisch sehen, seit 2001 weiter abgenommen hat (1989 waren es noch 22 % gewesen). Einerseits weil die Krim nicht mehr Teil der Ukraine ist und hier die größte Konzentration ethnischer Russ*innen lebte, aber auch durch den brutalen Angriffskrieg Putins, der wohl viele ethnische Russ*innen in der Ukraine dazu gebracht hat ihr nationales Selbstverständnis neu zu überdenken. Insbesondere, da sich der Großteil der russischen Angriffe auf den Osten und Süden konzentriert und dort die russischsprachigen bzw. ethnisch russische Bevölkerung am meisten darunter leidet.
Schocktherapie und Oligarchie
In den Jahren nach der Unabhängigkeit glich die Entwicklung in der Ukraine der vieler anderer osteuropäischer Staaten. Die verstaatlichte Wirtschaft wurde einer „Schocktherapie“ mit massiven Privatisierungen, Deregulierungen und dem Rückbau sozialer Absicherungen unterzogen. Für den Lebensstandard in der Ukraine war das verheerend. Von 1990 bis 1995 sank die Lebenserwartung um fast vier Jahre – erst 2011 sollte wieder das Niveau von 1989 erreicht werden. Auch die Wirtschaftsleistung ging massiv zurück, nahezu die gesamten 90er Jahre lang schrumpfte die Wirtschaft Jahr für Jahr – erst 2005 sollte wieder die Wirtschaftsleistung von 1989 erreicht werden. Am Höhepunkt lebten in den 90er Jahren mehr als 50 % der Menschen in der Ukraine in Armut (entspricht weniger als 5,5 $/Tag, nach Kriterien der Weltbank).
Gleichzeitig profitierte eine kleine Elite an Kapitalist*innen massiv. Sie nutzte dabei die Schleuderpreise, mit denen die staatliche Industrie privatisiert wurde, aus und häufte riesige Reichtümer und Macht an. Da es während der Zeit der Sowjetunion keine Klasse an Kapitalist*innen sondern nur eine herrschende, parasitäre Bürokratie gab, musste sich die ukrainische Bourgeoisie erst einmal als herrschende Klasse konstituieren. Wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern war auch hier der Weg der Oligarchie naheliegend. Die einflussreichen Unternehmer*innen übten zudem gleichzeitig die wichtigsten politischen Ämter (Präsidentschaft, Gouverneur*innen der Oblaste, etc.) aus. Die Oligarch*innen waren dabei oft nach ihren politischen, ökonomischen und finanziellen Verbindungen in einen auf den Westen und einen auf Russland ausgerichteten Teil gespalten. An der Regierung wechselten sich „pro-russische“ und „pro-westliche“ Präsidenten ab.
Vom Maidan in den Bürger*innenkrieg
Als der „pro-russische“ Präsident Viktor Janukowytsch im Herbst 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der EU aussetzte, kam es – vor allem in Kiew und den westlichen Landesteilen – zu Massenprotesten und der Besetzung des Kiewer Maidan (Unabhängigkeitsplatz). Am Anfang hatte die Bewegung noch einen widersprüchlichen Charakter, einerseits war es eine populäre Massenbewegung, angetrieben durch die Unzufriedenheit mit der Korruption der Regierung und den allgemein schlechten Lebensbedingungen der ukrainischen Massen, andererseits verfolgte sie implizit und explizit reaktionäre Ziele: Erleichterung der Ausbeutungsbedingungen für westliches Kapital durch wirtschaftliche und politische Assoziierung mit der EU. Doch recht bald wurde klar, dass die ukrainische Rechte und im Besonderen auch offen faschistische Kräfte auf der Straße eine offene linke Präsenz in den Protesten verunmöglichten. Nahezu das gesamte Spektrum der politischen Rechten war stark vertreten (nur die pro-russische Rechte blieb den Protesten fern). Das reichte von den Schlägertrupps des neonazistischen Rechten Sektors bis hin zur im Parlament vertretenen rechtsrechten Partei Swoboda (die auch ihre eigenen Schlägertrupps am Maidan organisierte). Versuche von kommunistischen (Borotba) und anarchistischen (Chorna Sotnia) Kräften eine linke Präsenz am Maidan zu etablieren, wurden durch die offene Militanz faschistischer Kräfte zunichte gemacht. Das Kräfteverhältnis kippte sehr bald klar in Richtung der nationalistisch-neoliberalen Kräfte des „pro-westlichen“ Establishments auf der politischen Ebene und zugunsten der organisierten faschistischen Banden auf der Straße. Die westlichen Staaten, allen voran die USA, unterstützten die Proteste politisch, logistisch und finanziell – was aber nicht zum verkürzten Schluss führen sollte, dass das der einzige oder auch wichtigste Grund für die Proteste war.
Der Versuch der Regierung von Janukowytsch mit massiver Repression die Proteste niederzuschlagen, führte nur dazu, dass eine Welle der populären Empörung die Bewegung noch weiter befeuerte. Mitte Februar eskalierte dann die Situation, es wurden dutzende Protestierende und Polizist*innen durch bislang nicht eindeutig geklärte Scharfschützen ermordet. Das Resultat war die Radikalisierung der Proteste und die Desintegration des staatlichen Repressionsapparates, Janukowytsch floh aus dem Land und es kam zur putschartigen Absetzung seiner Regierung – außerhalb des regulären Prozesses der Verfassung der Ukraine. Das Resultat war die Errichtung einer pro-westlichen Interimsregierung unter dem der US-Bourgeoisie nahestehenden neoliberalen Nationalisten und Ex-Banker Arsenij Jazenjuk.
Die neue Regierung ließ nicht lange auf sich warten, sie schlug sofort einen klar ukrainisch-nationalistischen Kurs ein. Die Prioritäten der ersten Tage der neuen Regierung waren eindeutig: Amzweiten Tag wurde das 2012 eingeführte Sprachengesetz, welches es Regionen ermöglichen sollte, andere Sprachen als Ukrainisch als Amtssprache zu etablieren, zurückgenommen. In der ersten Woche wurden „pro-russische“ Gouverneure bzw. Bürgermeister abgesetzt und gesetzlich verfolgt. Schon bald wurden Gesetze zur sogenannten „Dekommunisierung“ (also dem Aufräumen mit der sowjetischen Vergangenheit in allen Aspekten der Gesellschaft) beschlossen, die Kommunistische Partei der Ukraine und andere Linke wurden nach und nach unterdrückt und unliebsame Medien nach und nach verboten.
Der russische Imperialismus nutzte das folgende Chaos in den Tagen nach dem Sturz von Janukowytsch dazu, die Halbinsel der Krim, die mehrheitlich von ethnischen Russ*innen bewohnt und nahezu vollkommen russischsprachig war, zu annektieren. Trotz der komplett reaktionären Art und Weise wie diese Annexion stattfand, dürfte doch recht wenig Zweifel darüber bestehen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim eine Abtrennung von der Ukraine unterstützte. Auf der einen Seite – trotz eines teilweisen Boykotts der Abstimmung – gab mehr als die Hälfte der Bevölkerung ihre Stimme zum Beitritt zu Russland ab (Wahlbeteiligung eingerechnet), auf der anderen Seite war die Krim seit mehr als hundert Jahren mehrheitlich von Menschen bewohnt, die nicht nur fast ausschließlich Russisch sprachen, sondern sich auch mehrheitlich als russisch identifizierten. Für den russischen Imperialismus war und ist die Krim strategisch und militärisch essenziell, war sie doch der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte und wesentlicher Kontrollpunkt des Asowschen Meeres.
Die drohende und real stattfindende Unterdrückung der russisch(sprachig)en Minderheit führte auch in den anderen östlichen und südlichen Regionen der Ukraine sogleich zu einer Gegenbewegung auf der Straße. Anfangs war sie von einer diffusen Sowjetnostalgie, einer Ablehnung der faschistischen Banden, sowie einem Russland-freundlichen Kurs geprägt. Das drückte sich in der zweitgrößten ukrainischen Stadt, Kharkov, zum Beispiel darin aus, dass die anfangs größten Mobilisierungen zum Schutz des Lenin-Denkmals am Hauptplatz Kharkovs stattfanden.
In den Städten mit großen Teilen russischsprachiger Bevölkerung (Kharkov, Odessa, Donezk, Lugansk, etc.) nahmen diese Proteste Massencharakter an, teilweise wurden die Gebäude der Regionalregierung besetzt. Gleichzeitig mobilisierten die faschistischen Teile der Maidan-Bewegung massiv in die östlichen und südlichen Gebiete und es kam zu militanten Auseinandersetzungen auf der Straße. Spätestens mit dem Massaker in Odessa am 2. Mai 2014, bei dem 42 Menschen in einem von rechten Fußball-Hooligans und Faschist*innen angezündeten Gewerkschaftsgebäude zu Tode kamen, war der Weg in den Bürger*innenkrieg kaum noch zu stoppen.
Die ukrainische Regierung konnte sich hierbei nur in geringem Maße auf die aus Wehrpflichtigen bestehenden Streitkräfte verlassen und diverse Freiwilligeneinheiten, rekrutiert aus den militanten Teilen der Maidan-Bewegung, sprangen in die Bresche. Teilweise finanziert aus der privaten Tasche von Oligarch*innen wie Igor Kolomoisky (Aidar, Dnipro I und Dnipro II) oder Serhiy Taruta (Azov), wurden zusätzlich zu den Freiwilligen auch international Söldner*innen rekrutiert. Insbesondere das Aidar- und das Asow-Bataillon rekrutieren hierbei kräftig in der europäischen Neonazi-Szene. Sehr bald wurden die meisten dieser Freiwilligeneinheiten in die regulären ukrainischen Streitkräfte integriert. Das offen neonazistische Asow-Bataillon, das im September zum Regiment aufgestuft worden war, wurde ab November 2014 Teil der ukrainischen Nationalgarde.
Die Rebell*innen im Osten rekrutierten sich anfangs in erster Linie aus der lokalen Bevölkerung, recht bald bekamen sie aber die tatkräftige Unterstützung des russischen Imperialismus, der Freiwillige bereitwillig in die Ukraine zum Kämpfen gehen ließ. Spätestens Ende des Sommers 2014 dürften auch reguläre russische Truppen zum Einsatz auf ukrainischem Territorium eingesetzt worden sein. Sehr bald konnte so der russische Imperialismus die anfangs fortschrittliche, antifaschistische Bewegung in der Ukraine für sich vereinnahmen.
Der Bürger*innenkrieg im Donbass brachte vor allem den östlichen Regionen verheerende Zerstörungen, tausende starben und noch viele mehr mussten flüchten. Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs konnten gemeinsam mit Russland dann Anfang 2015 in Minsk ein Waffenstillstandsabkommen aushandeln, das die Kampfhandlungen zwar reduzieren, aber nicht vollkommen beenden konnte. Vor allem die politischen Punkte, die unter anderem eine Verfassungsreform der Ukraine hin zu einer Dezentralisierung vorsahen, wurden nie umgesetzt.
Geopolitische Dimension
Spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends erlebte der russische Imperialismus unter Wladimir Putin eine Renaissance. Damit verbunden war eine Auseinandersetzung mit der EU (hier insbesondere dem deutschen Kapital) und den USA über Märkte und Einflusszonen in Osteuropa. Die Ukraine war zu Sowjetzeiten eines der Herzstücke der sowjetischen Industrie und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die ukrainische und russische Industrie weiterhin eng verbunden. Dem westlichen Kapital war das natürlich ein Dorn im Auge und es versuchte das Land für das internationale Kapital zu öffnen. Schon in den Protesten 2004/05, die als Orangene Revolution bekannt wurden, zeichnete sich diese Auseinandersetzung ab. Die ukrainischen Kapitalist*innen mussten sich fortan entscheiden, ob sie sich lieber dem Westen oder Russland unterordnen wollten.
Doch auch die Politik „des Westens“ war und ist alles andere als einhellig, vor allem das deutsche Kapital war traditionell wirtschaftlich eng an den russischen Imperialismus angebunden, sein Energiebedarf wird zu guten Teilen mit russischem Gas gedeckt. Eine relevante Fraktion des deutschen Kapitals sah in Russland auch einen möglichen Partner, um sich unabhängiger vom US-Imperialismus machen zu können – Gerhard Schröder ist der beste Repräsentant dieser Politik. Die USA waren wirtschaftlich hingegen nicht wirklich auf Russland angewiesen und konnten sich dadurch aggressiver positionieren. Sie drängten zum Beispiel 2014 und danach auf harte Sanktionen gegen Russland, nicht nur um dem russischen Imperialismus zu schaden, sondern um auch gleichzeitig das deutsche Kapital und seine Absatzmärkte zu schwächen bzw. von Russland abzukoppeln. Diese innerimperialistischen Widersprüche führten dazu, dass das Abkommen von Minsk nur von Deutschland und Frankreich – ohne Beteiligung der USA – ausverhandelt wurde.
Volodymyr Zelensky
Die durch den Maidan und den darauf folgenden Wahlen eingesetzte Regierung war wenig populär. Präsident Poroschenko, der die Wahlen 2014 klar für sich entschieden hatte, war recht bald unpopulärer als sein Vorgänger Janukowytsch. Große Teile der Bevölkerung waren von der Maidan Bewegung und den leeren Versprechungen des Westens auf Modernisierung und Wohlstand desillusioniert. Bei den Wahlen 2019 konnte der jüdische, russischsprachige TV-Comedian Zelensky die Wahlen für sich entscheiden – eine klare Absage an das politische Establishment. Doch so einfach war es nicht, er profitierte enorm von der Unterstützung eines der reichsten Ukrainer – Igor Kolomoyskyi. Die TV-Serie von Zelensky lief auch auf dessen TV Sender „1+1“. Recht bald erwies sich auch Zelensky als unfähig und unwillig, die Probleme des Großteils der Ukrainer*innen zu lösen. Das ist auch nicht verwunderlich, da er dem Druck des rechtsnationalistisch durchsetzten, ukrainischen Staatsapparat sowie der Gnade des westlichen Kapitals und seiner Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds schutzlos ausgeliefert war.
Er hatte zwar als politischer Außenseiter die Wahlen gewonnen, aber er setzte politisch mehr oder weniger den Kurs seiner Vorgänger fort. Hatte er ursprünglich versprochen, den Krieg im Osten des Landes zu beenden und auf Verhandlungen mit Russland zu setzen, führte er ihn stattdessen fort und duldete die Rolle faschistischer Milizen im Kampf gegen die „Seperatist*innen“. Er versuchte die Ukraine in die Europäische Union und die NATO zu bringen und setzte den offen Antikommunismus weiter fort. Er wurde zum treuen Diener des westlichen Kapitals. Ende 2021 war seine Zustimmungsrate auf ein weniger als ein Drittel gefallen – und das, obwohl er die Wahlen zwei Jahre zuvor mit eindrucksvollen 72 % für sich entscheiden konnte.
Putins Krieg
Die Entscheidung Putins zum Angriff auf die Ukraine ist keineswegs vollkommen oder auch nur hauptsächlich dadurch zu erklären, dass er wahnsinnig geworden sei oder gegen Ende seines politischen Lebens auf seinen Platz in den Geschichtsbüchern bedacht wäre. Diese psychologistischen Erklärungsmuster westlicher Kommentator*innen sind alles andere als wissenschaftlich fundiert. Den Krieg durch seine ideologische Rechtfertigung des Überfalls – dass die Ukraine eine künstliche Nation wäre und eigentlich Teil einer großen russischen Volksgemeinschaft – zu erklären ist genauso unzureichend. Viel relevanter sind hier ökonomische wie geopolitische Faktoren. Es war in den letzten Jahren absehbar, dass sich die Ukraine und ihre Bevölkerung ideologisch, sowie der Staatsapparat und die Armee auch praktisch einem NATO-Beitritt annäherten. Jahr für Jahr stieg die Zustimmung in der Bevölkerung zu einem NATO-Beitritt, Jahr für Jahr schritt die Reform der Streitkräfte voran, Jahr für Jahr gab es auch im Westen mehr Befürworter*innen für einen NATO-Beitritt der Ukraine. Wenn der russische Imperialismus also einem NATO-Betritt der Ukraine zuvor kommen wollte, musste er eher früher als später handeln. Die (geo)politische Situation nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan ermutigte Putin in seinem imperialistischen Abenteuer, denn sie ließ die Schlussfolgerung zu, dass sich die USA offenbar voll und ganz auf den Konflikt mit China konzentrieren wollten. Inwiefern es auch Fehlkalkulationen auf russischer Seite wegen einer Überschätzung der russischen Widerstandsfähigkeit gegen die massiven Wirtschaftssanktionen sowie eine Falscheinschätzung der politischen und militärische Lage in der Ukraine durch den russischen Geheimdienst gab, lässt sich nur spekulieren – erscheint aber durchaus realistisch.
Am 24. Februar startete die russische Armee eine großangelegte Offensive gegen die Ukraine. Ziele im ganzen Land wurden getroffen und die Grenze im Osten, Süden und Norden des Landes überschritten. Erklärtes Ziel von Putin war die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine, eine dauerhafte Besatzung wurde am Anfang explizit ausgeschlossen. Der Plan war wohl in mehreren schnellen Vorstößen die ukrainische Armee auf allen Fronten zu überwältigen, zentrale Städte zu nehmen, die Regierung Zelensky zur Flucht außer Landes zu bewegen und eine schnelle Kapitulation zu erzwingen. Ergebnis davon sollte wohl sein, dass eine russische Marionettenregierung in Kiew installiert werden könnte.
Gekommen ist es dann doch anders. Das lässt sich auf mehrere Faktoren zurück führen. Einerseits wird in westlichen Medienberichten nahe gelegt, dass es eine Falscheinschätzung des russischen Geheimdienstes gab. Er soll fehlerhafte bzw. geschönte Berichte über die Ukraine an Putin abgeliefert haben. Die Art und Weise wie die Offensive in den ersten Tagen durchgeführt wurde (kein komplettes Ausschalten der ukrainischen Luftstreitkräfte, Vorstoß oft in kleinen Aufklärungsspezialtrupps, kein voller Einsatz der Streitkräfte, Information der Truppen erst am Vorabend der Invasion, etc.), legt auch nahe, dass der Zustand der ukrainischen Streitkräfte unterschätzt wurde. Dazu kamen noch massive logistische Probleme rund um die Truppenkonzentration bei Kiew. Möglicherweise die entscheidendere Fehleinschätzung Putins war aber, dass er mit dem blutigen Angriffskrieg einen großen Teil der Ukrainer*innen – auch solcher, die Russland bisher positiv gegenüber gestanden waren – hinter der Verteidigung der Ukraine versammelte.
Die ukrainischen Streitkräfte waren, wie weiter oben erwähnt, nach dem Maidan in einem katastrophalen Zustand. Sehr bald kamen deshalb die ersten westlichen Militärberater*innen in die Ukraine. Hier wandte man sich von ukrainischer Seite explizit an die aggressivsten Teile der NATO – die USA, Großbritannien, Kanada, Polen, Dänemark und Litauen (zusätzlich war noch Schweden als nicht-NATO Mitglied dabei). Gemeinsam mit Milliarden an militärischer Unterstützung sollten die ukrainischen Streitkräfte darauf vorbereitet werden in die NATO-Militärstrukturen miteinbezogen zu werden.
Die russische Invasion kam deshalb schon sehr bald ins Stocken. Die einzige größere Stadt, die schnell eingenommen werden konnte war Kherson im Süden. Die meisten anderen größeren Städte hatte man versucht zu umzingeln, darunter Kharkov, Chernihiv und Mariupol. Größeren offenen Gefechten ging die ukrainische Armee bewusst aus dem Weg und beschränkte sich vor allem darauf, die in Massen angelieferten Panzer- und Luftabwehrwaffen aus Hinterhalten einzusetzen.
Nachdem es nach mehreren Wochen blutiger Kämpfe nicht gelungen war Kiew einzunehmen, gab es dann Ende März den Beschluss der russischen Armee die Vorstöße rund um Kiew aufzugeben und sich vor allem auf die Offensive im Donbass zu konzentrieren. Nach dem Rückzug russischer Truppen aus den Vororten von Kiew wurde dort die massive Zerstörung sichtbar, inklusive wahrscheinlicher russischer Kriegsverbrechen, die prompt von Zelensky als Genozid bezeichnet wurden. Eine klare Unterscheidung zwischen dem, was ein Kriegsverbrechen und einen Genozid darstellt, ist essenziell. Es ist nicht nur analytisch unbrauchbar diese beiden Kategorien zu vermischen (immerhin wird dadurch ein Verstehen der Situation erschwert), es ist auch moralisch verwerflich diese beiden Verbrechen zu vermischen. Die westlichen Medien waren bisher zögerlich Zelenskys Propaganda des Genozids unkritisch aufzugreifen, würde das doch in letzter Konsequenz einen notwendigen Kriegsgrund gegen Russland darstellen.
„Kampf um die Demokratie“ oder „Entnazifizierung“?
Von beiden Seiten des Konfliktes werden vordergründig ideologische Gründe für die Kriegsbeteiligung genannt. Von russischer Seite war von Anfang an eines der beiden zentralen Kriegsziele eine „Entnazifizierung“ der Ukraine. Hierbei ist es relevant eine adäquate Einschätzung der wirklichen Lage der faschistischen Kräfte in der Ukraine zu machen. Die Ukraine ist alles andere als, wie von Putin behauptet, ein von Nazis regiertes Land. Die aktuelle Regierung lässt sich wohl am besten als neoliberal-nationalistisch charakterisieren. Es gibt auch keine große faschistische Partei im Parlament. Diese Argumente sind weitgehend aus der westlichen Berichterstattung bekannt. Doch wer hier stehen bleibt, begeht den Fehler, dass die Person entweder die wirklichen Kräfteverhältnisse und politischen Wirkweisen in der Ukraine nicht kennt, oder sie bewusst verschleiern möchte. Die faschistische Rechte in der Ukraine befindet sich seit dem Maidan in einem mehr oder weniger offenen Bündnis mit den neoliberalen Kräften. Dieses Bündnis ist nicht unbedingt dauerhaft gesichert und in der Vergangenheit gab es immer wieder auch starke Straßenmobilisierungen der faschistischen Rechten gegen die Regierung, die genutzt wurden, um die Regierung zu einem härteren Vorgehen gegen die „Volksrepubliken“ im Osten zu bewegen.
Im Großen und Ganzen gab es seit 2014 eine massive Rehabilitierung der nationalistischen Vergangenheit, insbesondere der faschistischen Kräfte der ehemaligen Organisation Ukrainischer Nationalisten unter Stepan Bandera, der zum regelrechten Nationalheld wurde. Bandera wurde sogar mehrmals ein staatlicher Feiertag gewidmet (auch unter Zelensky). Zur Rehabilitierung der ukrainisch-faschistischen Tradition kommt noch die massive Verstrickung faschistischer Kräfte mit dem Staatsapparat hinzu. Hier ist kein Platz alle prominenten faschistischen Anführer*innen aufzuzählen, die wichtige Plätze im Sicherheitsapparat bekamen, wie der stellvertretende Azov-Kommandant Vadim Troyan, der mehrere Jahre lang Chef der nationalen Polizei und stellvertretender Innenminister war. Essenziell ist aber die Existenz eines gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen neoliberal-nationalistischem Politik-Establishment und faschistischer Bewegung.
Kann man also dem russischen Ziel der Entnazifizierung Glauben schenken? Die Antwort darauf kann nur ein klares Nein sein. Es lässt sich nicht behaupten, dass Putin ein besonders großes Problem mit Faschist*innen hätte, gerne greift er selbst zum Beispiel auf die Söldner-Truppe des offenen Neonazis Dmitry Utkin zurück. Die Wagner Gruppe, benannt nach dem im Dritten Reich so beliebten Komponisten Richard Wagner, agiert unter anderem auch in der Ukraine. Als nicht regulärer Teil der russischen Armee kann die russische Regierung offizielle Verantwortung für sie leugnen. Putins Behauptung für eine Entnazifizierung der Ukraine einzutreten, ist deshalb vor allem wichtig für eine gewisse historische Legitimierung seines Raubzugs. Vor allem im russischsprachigen Teil der Ukraine haben nahezu alle Familien ein tiefgehendes Verhältnis zum Kampf gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg, so gut wie alle Familien haben Opfer im Krieg zu beklagen und der blutige Kampf gegen den Nationalsozialismus hinterließ tiefe Wunden im kollektiven Gedächtnis.
Genauso wie die angebliche Entnazifizierung ist aber auch der Kampf für die Demokratie, wie er von USA, EU und ukrainischer Regierung geführt wird, in erster Linie eine Rechtfertigungsideologie und hat wenig Basis in der Realität. Gerne wird die Ukraine als liberale Demokratie nach westlichem Muster bezeichnet. Natürlich ist die Ukraine im Vergleich zu Russland etwas demokratischer, aber sie ist auch alles andere als ein demokratisches Musterland. In erster Linie ist die ukrainische Demokratie eine Spielwiese für die ukrainischen Oligarch*innen, soweit unterscheidet sie sich aber nicht von den meisten westlichen Demokratie. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass in ihr alles was den Anschein von Kommunismus oder Russland-Nähe hat unterdrückt und kriminalisiert wird.
Schon direkt nach dem Umsturz des Maidan begann die Repression gegen die viertgrößte Parlamentspartei, die Kommunistische Partei der Ukraine. Sie hatte 2012 mehr als 100.000 Mitglieder, hatte bei den Parlamentswahl 13,2 % der Stimmen bekommen und war damit knapp hinter Vladimir Klitschkos UDAR auf Platz 4 gelandet. Schon im Frühling 2014 begann die Repression, unterschiedliche Teile des ukrainischen Staatsapparates begannen der KPU vorzuwerfen, sie würde pro-russischen Separatismus unterstützen. Nachdem die Geschäftsordnung des ukrainischen Parlaments im Sommer 2014 geändert wurde, wurde die Parlamentsfraktion der KPU aufgelöst. Doch das war nur der Anfang, im Zuge der ukrainischen Politik des Antikommunismus wurde ihr 2015 verboten an den Wahlen teilzunehmen, was auch bei den Wahlen 2019 der Fall war. Im Dezember 2015 wurden dann drei kommunistische Parteien verboten, die KPU konnte gegen ihr Verbot zwar erfolgreich Einspruch erheben, aber de facto hat sie keine Möglichkeiten der legalen Betätigung mehr.
Doch nicht nur gegen Parteien wurde in der Ukraine autoritär vorgegangen. Immer wieder wurden oppositionelle Medien verboten, es gibt eine Liste verbotener russischer Bücher unter die sogar Kinderbücher fallen. Erst kürzlich ist die Situation in der Ukraine noch einmal eskaliert. Insgesamt wurden 11 Parteien, inklusive der größten Oppositionspartei und auch linker Parteien (wie die Union der linken Kräfte oder der Plattform Linke Opposition, die neben slawisch-nationalistischen Kräften auch linke Kräfte vereinigte) verboten. Gemeinsam mit der Tatsache, dass in vielen westlichen Ländern die wesentlichen russischen Medien Russia Today und Sputnik verboten wurden, zeigt dies deutlich, dass es hier nicht um eine „Verteidigung der Demokratie“ geht. So wie die russische Legende der Entnazifizierung, dient die Legende der „Verteidigung der Demokratie“ zu einer ideologischen Mobilisierung für die eigene Seite des Konflikts.
Innerimperialistischer Konflikt
Der Krieg in der Ukraine ist nur als Teil eines globalen Konfliktes zwischen imperialistischen Großmächten wirklich zu verstehen. Wenn es Putin einzig und alleine darum gehen würde die Ukraine zu unterjochen, hätte er das schon 2014 getan, als die ukrainischen Streitkräfte als reguläre Armee quasi aufhörten zu existieren. Der Konflikt lässt sich nur in einem größeren Kontext verstehen, dafür sind eine Reihe an Faktoren relevant.
Die USA haben, beginnend unter Trump und beschleunigt unter Biden, die Entscheidung getroffen, ihre globale militärische Präsenz auf China zu konzentrieren. Der Fokus liegt hierbei auf dem Indopazifik und militärisch wird auf eine Zusammenarbeit mit Ländern wie Japan, Indien, Australien und Großbritannien gesetzt. Das wichtigste Indiz dieser Politik war der rasche und kompromisslose Abzug aus Afghanistan. Aber auch das vermehrte Drängen darauf, dass Europa endlich seine Militärkapazitäten hin zu einer „strategischen Autonomie“ ausbauen sollte, um nicht mehr auf die USA angewiesen zu sein.
Darauf basiert die Erkenntnis des russischen Imperialismus, dass jetzt ein guter Zeitpunkt sei um Zugeständnisse zu erwirken. Schon Ende 2021 wurde von den westlichen Geheimdiensten eine massive Truppenbewegung Russlands im Grenzgebiet zur Ukraine wahrgenommen. Das ging einher mit den Forderungen des Kremls an die NATO um Sicherheitsgarantien und den Rückzug der NATO aus Osteuropa. Wie ernst diese Forderungen wirklich zu nehmen waren, ist natürlich fraglich, aber die Tatsache, dass der russische Angriff auf die Ukraine am Ende und nicht am Anfang des Winters stattfand, spricht durchaus dafür, dass sich der russische Imperialismus Zugeständnisse erhoffte. Der wirtschaftliche Spielraum für Moskau ist in den Wintermonaten, wenn Europa noch mehr als sonst auf russisches Gas angewiesen ist, nämlich am größten.
Seit geraumer Zeit nähern sich der russische und der chinesische Imperialismus einander an. Historisch gesehen gab es nicht immer ein gutes Verhältnis zwischen China und Russland, aber in der aktuellen Situation und auch in geraumer Zukunft gibt es große gemeinsame Interessen. Beides sind Länder, die an der globalen „regelbasierten Weltordnung“ nur sekundär teilhaben. Sie würden die Regeln gerne neu schreiben, um die Welt neu aufzuteilen. Gleichzeitig sind beides Länder, die weder in die westlichen Militärbündnisse eingebunden sind, noch an den Schalthebeln des globalen Finanzsystems sitzen. Damit ergeben sich logische Interessenüberschneidungen. Drei Wochen vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine besuchte Putin Chinas Staatschef Xi Jinping in Peking bei den Olympischen Spielen, sie bestätigten dort, dass ihre Partnerschaft „keine Grenzen“ kennen würde. In welchem Ausmaß Putin damals schon Xi von seinen konkreten Plänen in Bezug auf die Ukraine informierte, ist unklar, sehr enthusiastisch zeigte sich China aber seither nicht.
Wie schon weiter oben erwähnt gab es im NATO-Lager immer sehr große Differenzen um das Vorgehen in der Ukraine. Die von Russland kaum wirtschaftlich abhängigen USA, aber auch Großbritannien oder Kanada vertraten traditionell einen aggressiven und konfrontativen Kurs. Deutschland und in geringerem Maße auch Frankreich hatten traditionell das Ziel, eine diplomatische Lösung mit Russland zu finden und spielten dabei oft eine vermittelnde Rolle. Das war auch noch Anfang diesen Jahres der Fall als sowohl Emmanuel Macron als auch Olaf Scholz Putin einen Besuch in Moskau abstatteten und versuchten die Lage zu deeskalieren. Die Eskalation Putins und die darauf folgende Welle der Empörung, die sich durch die gesamte westliche mediale und politische Landschaft zog, führten erst einmal dazu, dass die Differenzen innerhalb des NATO-Lagers in den Hintergrund traten. Wie nachhaltig dieses Zusammenrücken mittelfristig sein wird ist noch unklar und hängt vor allem von äußeren Faktoren, wie dem Verhalten des russischen und des chinesischen Imperialismus ab. Die Tatsache, dass Deutschland aber zusätzliche 100 Milliarden für das größte deutsche Rüstungsprojekt seit 1945 locker gemacht hat, wird – falls es wirklich geschafft wird die „wirksamste Armee Europas“ aufzubauen – wohl mittelfristig als Grundlage für ein eigenständiges Agieren innerhalb der bisher von den USA dominierten NATO dienen können. China übt sich seit dem russischen Überfall in russlandfreundlicher Neutralität. In unterschiedlichen internationalen Abstimmungen über Fragen zum russischen Angriffskrieg (UN-Generalversammlung, Internationaler Gerichtshof, UN-Sicherheitsrat, etc.) stimmte China entweder mit Russland oder enthielt sich der Stimme. Auf wirtschaftlicher Ebene sieht die Bilanz aber durchwachsener aus, unterschiedliche chinesische Banken und Konzerne haben, aus Angst auch von den westlichen Sanktionen getroffen zu werden, Geschäfte mit Russland eingeschränkt.
Nichtsdestotrotz ist China, als Russlands größter Handelspartner, essenziell für die russische Wirtschaft – die Führung in Peking hat auch schon angekündigt, dass sie die Wirtschaftssanktionen nicht mittragen wird. China steht mit dem Konflikt rund um die Ukraine in einer widersprüchlichen Situation. Auf der einen Seite profitiert die chinesische Wirtschaft von guten und stabilen globalen Verhältnissen und reibungsfreiem Welthandel. Das würde dafür sprechen, dass China auf eine rasche Beilegung des Konflikts und eine diplomatische Lösung setzt, was auch ihre formale Position nach außen ist. Auf der anderen Seite könnte aber China bei einem länger ausgedehnten Konflikt zu einem noch viel wichtigeren Handels- und Wirtschaftspartner für Russland werden und es durch Kredite, Hochtechnologieprodukte und als Abnehmer von Öl und Gas in ein Abhängigkeitsverhältnis bringen. Dem US-amerikanischen Imperialismus nutzte der Erste Weltkrieg enorm als Mittel um sich von Frankreich und Großbritannien zu emanzipieren und die beiden imperialistischen Großmächte finanziell abhängig zu machen, eine ähnliche Strategie wird bestimmt auch in den Kreisen der chinesischen Führung diskutiert.
Militarisierung
Die ukrainische Armee hat bisher Militärhilfen in Milliardenhilfe von den USA und der EU bekommen. Innerhalb von kürzester Zeit wurde die Ukraine zum größten Militärhilfeempfänger der USA – noch vor Ägypten und Israel. Seit Beginn der Biden-Administration wurden 2 Milliarden Dollar an Militärgerät an die Ukraine geschickt und erst kürzlich wurden dem Pentagon 6,5 Milliarden Dollar für die Ukraine gewährt, die eine Hälfte davon soll für den Aufbau der US-Militärpräsenz in Osteuropa verwendet werden, die andere Hälfte soll als noch unspezifizierte Militärhilfen an die Ukraine gehen. Auch die EU hat schon eine Milliarde Euro an Militärhilfen für die Ukraine beschlossen. Auch Kanada und Großbritannien beteiligen sich an der Unterstützung der Ukraine. Das sind keine unbeachtlichen Zahlen und entsprechen in Summe ungefähr 10 % des gesamten russischen Militärbudgets (2020) – oder des gesamten Militärbudgets der Ukraine von 2020.
Mit dieser „Großzügigkeit“ zeigt sich einmal mehr der Charakter des Konflikts als innerimperialistisch. Es gab zwar in den letzten zehn Jahren immer wieder militärische Konflikte, in denen sich die westlichen Staaten positiv auf diverse Kriegsparteien (wie zum Beispiel auf kurdische und arabische Rebell*innen im syrischen Bürger*innenkrieg) bezogen hatten, doch einen nur annähernd vergleichbaren Grad an militärischer Unterstützung gab es dabei nicht. Der ukrainische Staat ist aktuell militärisch und ökonomisch nahezu vollkommen abhängig von der Hilfe aus dem Westen und damit nicht zu einer unabhängigen Position fähig (außer es geht darum, noch mehr Militärhilfen einzufordern).
Darüber hinaus äußerte sich als unmittelbare Auswirkung des russischen Überfalls auf die Ukraine vor allem die massiven Aufrüstungspläne vieler europäischer Staaten. An der Spitze steht hier Deutschland mit seinem 100-Milliarden-Rüstungsprogramm. Aber die Stimmung der Aufrüstung ist bei weitem nicht in erster Linie auf Deutschland beschränkt. Auch Präsident Macron hat eine Erhöhung der französischen Militärausgaben angekündigt, um Europa „weniger abhängig von anderen Kontinenten“ zu machen und eine „unabhängigere und souveränere Macht zu werden“. Zudem haben Italien, Polen, Norwegen, Litauen, Belgien, Rumänien und Schweden – teilweise massive – Erhöhungen ihrer Militärausgaben angekündigt. Andere Staaten werden wohl folgen.
Auch Österreich hat angekündigt die Ausgaben für das Bundesheer massiv zu steigern. 10 Milliarden sollen in einen „Neutralitätsfonds“ investiert werden, mit dem über die nächsten 5 Jahre militärische Neuanschaffungen erledigt werden sollen. Außerdem soll der Anteil der Militärausgaben auf 1,5 % des BIP bis 2027 ansteigen, was sie mehr als verdoppeln würde – damit würden sie sogar höher liegen als zum Höhepunkt des Kalten Krieges, wo sie bei 1,2 % lagen.
Wir sehen also eine massive Militarisierung auf dem europäischen Kontinent, vor allem die Militarisierung des deutschen Imperialismus bereitet hierbei massive Sorgen. Argumentiert wird das Ganze damit, dass man sich gegen die Gefahr Putins schützen müsse, mehr als lächerlich beim russischen Militärbudget von etwas mehr als 60 Milliarden. Die EU gab 2020 – also vor der erwarteten Erhöhung – schon fast 200 Milliarden für ihre Armeen aus. Zudem ist wohl kaum zu erwarten, dass Putin, der schon bei der militärisch und ökonomisch viel schwächeren Ukraine massive militärische Probleme hat, realistischerweise eine Gefahr für Europa darstellt.
In den kommenden Monaten werden wir vor allem auch den Versuch sehen, eine effektive EU-Armee zu erschaffen. Der größte Push dafür war in der Vergangenheit von Frankreich ausgegangen, das neue politische Klima begünstigt dies aber zusätzlich noch einmal massiv. Wie an den oben erwähnten Zahlen erkennbar, ist das Problem für den europäischen Imperialismus nämlich nicht unbedingt, dass zu wenig Geld für Militär ausgegeben wird, sondern dass die unterschiedlichen Länder ihre eigenen Armeen erhalten und kontrollieren und damit bisher keine zentralisierte europäische Armee möglich ist. Die Schritte, die in der Vergangenheit in diese Richtung ergriffen worden sind, wie die 2004 ins Leben gerufenen EU Battlegroups, haben nicht die erhoffte Brücke zu einer echten EU-Armee geschlagen. Das Interesse der Herrschenden in der EU ist jetzt offenbar dazu übergegangen dieses Projekt ernsthafter anzugehen, vor allem auch weil die öffentliche Stimmung dafür so günstig ist wie noch nie. Ein erster Schritt dafür ist die neu geschaffene EU-Eingreiftruppe, an der sich auch Österreich beteiligen wird.
Gemeinsam mit den finanziellen Grundlagen, die aktuell in fast allen Staaten geschaffen wurden, ist der politische Wille für eine wirkliche EU-Armee auch deutlich gestiegen. Das bedeutet noch lange nicht, dass sich die Herrschenden der einzelnen Nationen darauf einigen werden könnten, wie eine solche Armee aussehen soll, wie die Finanzierung zustande kommen würde, wie sie im Verhältnis zu den bestehenden Streitkräften stehen würde, welche Rolle die französischen Atomwaffen spielen werden würden oder – ganz entscheidend – wie die Befehlskette aussehen könnte. Die nächsten Jahre werden für alle fortschrittlichen Kräfte aber auf jeden Fall einen gesteigerten Kampf gegen Militarisierung und insbesondere eine EU-Armee bringen.
Wirtschaftliche Auswirkungen
Die Antwort der „internationalen Gemeinschaft“ (also der USA, Kanada, EU und Japan) auf den russischen Überfall auf die Ukraine war ein beispielloses Paket an wirtschaftlichen Sanktionen. Russische Banken wurde aus dem Inter-Bank-Kommunikationssystem SWIFT ausgeschlossen, der Großteil seiner ausländischen Währungsreserven wurde eingefroren, russische Importe wie Exporte wurden massiv eingeschränkt, russische Oligarch*innen sollen sanktioniert werden und vieles mehr. Die Sanktionen beschränken sich aber nicht nur darauf, dass Regierungen wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängen, sondern auch relevante Teile des privaten Kapitals, das normalerweise bereit ist für seine Profite so gut wie alles in Kauf zu nehmen, schränken ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in Russland massiv ein oder beenden sie komplett. Hieran lässt sich gut feststellen, dass große Teile des westlichen Kapitals bereit sind kurzfristig eine Einschränkung seines Profitrahmens in Kauf zu nehmen, um mittelfristig einen unliebsamen Konkurrenten am Weltmarkt zu verdrängen. Gleichzeitig soll es als Warnung an China dienen, nicht dem russischen Beispiel in Taiwan zu folgen.
Die mittelfristigen Auswirkungen der wirtschaftlichen Sanktionen sind noch nicht ganz abzuschätzen. Kurzfristig ist vor allem der Wert des Rubels massiv gefallen und die Moskauer Börse war fast einen Monat lang geschlossen, wurde doch ein massiver Absturz der Kurse befürchtet. Der massive Einsturz blieb dann aber erstmal unmittelbar aus und auch der Kurs des Rubels hat sich bereits erholt. Russland hatte sich jahrelang auf massive wirtschaftliche Sanktionen vorbereitet und hunderte Milliarden an Auslandsdevisen und Gold angehäuft. Die Staatsschulden waren mit nicht einmal 20 % auf einem Niveau, das sich europäische Staaten nicht einmal vorstellen können. Der Zugriff auf die Auslandsreserven, die in Europa, Japan oder Amerika angelegt waren, wurde eingefroren, in relevantem Ausmaß sind nur die chinesischen Währungsreserven und das in der Zentralbank gelagerte Gold verfügbar. Dazu kommt aber noch der russische Energieexport. Insgesamt versucht der russische Staat sich gegen die Sanktionen zu wehren, so hat er schon angekündigt, dass „unfreundliche Staaten“ zukünftig russisches Erdgas nur mehr gegen Rubel bekommen würden, was aber bisher nicht durchgesetzt wurde. Nur Ungarn hat sich bisher bereit erklärt russisches Gas in Rubel zu kaufen. Außerdem werden große Exporteure angewiesen, 80 Prozent ihrer Auslandsgelder bei der russischen Zentralbank in Rubel zu tauschen.
Nach und nach wird der Import von russischem Öl und Gas eingeschränkt. Es begann damit, dass westliche Ölkonzerne wie Shell oder BP sich freiwillig aus dem russischen Markt zurückzogen.
Mittlerweile haben sich so gut wie alle westlichen Ölkonzerne (mit Ausnahme des französischen „Total“) aus dem Geschäft in Russland zurückgezogen. Die USA legten dann Mitte März nach und verboten den Import von russischem Öl, Gas und Kohle. Die europäischen Staaten sind wirtschaftlich deutlich angewiesener auf den Import von russischem Öl und Gas als die USA, haben aber auch angekündigt den Ausstieg zu beschleunigen. Mittlerweile wird kaum noch vom Westen russisches Öl gekauft, was zu einem massiven Anstieg der Preise am Weltmarkt geführt hat.
Da noch immer nahezu fast alle Produkte in ihren Produktionsketten irgendwann auf fossile Brennstoffe angewiesen sind, befeuert das natürlich die globale Inflation. Die war zwar schon auch vor den westlichen Sanktionen und dem massiven Anstieg der globalen Rohölpreise massiv am Steigen, aber so ist der Weg natürlich noch stärker vorgeschrieben. Insgesamt ist durch die Krise eine globale Rezession deutlich wahrscheinlicher geworden. Ende März schätzte Wells Fargo, die drittgrößte US-Bank das Risiko einer Rezession bis Ende nächsten Jahres auf 50 %, auch die Investment Bank Goldman Sachs schätzte Anfang April das Risiko einer Rezession in den nächsten 2 Jahren auf 38 % ein.
Insgesamt treffen die Wirtschaftssanktionen des Westens nicht in erster Linie die Weltwirtschaft, sondern die größte Leidtragende ist die große Mehrheit der russischen Bevölkerung. Ihr Lebensstandard wird massiv einbrechen, die Sanktionen werden den Zugang zu medizinischer Versorgung und anderen lebenswichtigen Gütern erschweren und letztlich wohl auch zu einer relevanten – wenn auch schwer abschätzbaren – Zahl an Todesopfern führen. Das muss allen Menschen bewusst sein, die im Kampf gegen den russischen Imperialismus nach Wirtschaftssanktionen gegen Russland rufen.
Ein letzter, wenn auch oft übersehener Punkt ist die globale Getreideversorgung und damit auch eine drohende Hungerkatastrophe in einer Reihe von afrikanischen und asiatischen Ländern. Russland und die Ukraine sind global sehr wichtige Exporteure von Getreide. Russland ist der größte Weizenexporteur und die Ukraine ist auf Platz 5. Zusammen sind sie für ungefähr ein Viertel des globalen Weizenexports verantwortlich. Riesige afrikanische Länder wie der Sudan, die Demokratische Republik Kongo oder Ägypten sind für die übergroße Mehrheit ihrer Weizenimporte auf die beiden Länder angewiesen, Benin und Somalia sogar zu 100 %. Dazu sind die Ukraine und Russland auch noch riesige Exporteure von Sonnenblumen(öl) und Mais. Wie genau sich die Exporte Russlands entwickeln werden, steht noch nicht ganz fest, die aus der Ukraine werden aber wohl massiv einbrechen. Einerseits weil aktuell die meisten ukrainischen Bäuer*innen andere Sorgen haben als die Aussaat für dieses Jahr vorzubereiten und andererseits, weil der Export selbst durch die mehr oder weniger effektive Seeblockade der russischen Marine vor allem über die sehr viel teureren Bahnverbindungen durchgeführt werden muss.
Insgesamt zeigt der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland – immerhin ist Russland nun das global und historisch am meisten sanktionierte Land – dass der Konflikt eben nicht nur ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist. Das Element der innerimperialistischen Konfrontation ist das zentrale. Die Tatsache, dass sich westliche Konzerne freiwillig an diesem beteiligten, zeigt ganz gut, dass der Drang zur nahezu totalen Isolierung der russischen Wirtschaft nicht einfach nur aus der kurzfristigen Empörung heraus entstand und bald wieder vorbei sein wird. Dieser Drang drückt die besorgniserregenden Entkopplungstendenzen der Weltwirtschaft aus. Die Schaffung mehr oder weniger autarker Wirtschaftsblöcke ist eine der Grundvoraussetzungen für die direkte militärische Konfrontation von imperialistischen Großmächten.
Was tun?
Im Bilde der Ereignisse der letzten Wochen und Monate ist nun vor allem die Frage relevant, wie denn eine fortschrittliche Positionierung aussehen kann. Als Internationalist*innen ist für uns natürlich nicht in erster Linie relevant, was in diesem oder jenem Land die dominanten Fragen sind, sondern was vom Standpunkt der globalen Arbeiter*innenklasse aus getan werden kann und soll. Das sollte natürlich nicht bedeuteten, dass sich die konkreten Antworten in abstrakten Allgemeinsätzen auflösen. Wichtig ist aber, dass nur eine Analyse, die das große Ganze miteinbezieht, die Totalität des globalen Kapitalismus, zu einer kohärenten, internationalistischen Antwort führen kann.
Wichtig ist dabei, den Konflikt nicht nur aus der Perspektive zu betrachten, dass es sich bei der Ukraine um ein nicht-imperialistisches Land handelt, welches vom viel mächtigeren russischen Imperialismus überfallen wird. Das mag zwar isoliert betrachtet richtig sein, blendet aber die globale Perspektive aus. Der Wirtschaftskrieg und die Militärhilfen sind nicht irrelevante Nebeneffekte, sondern zentraler Bestandteil der Auseinandersetzung.
Der Analyserahmen spielt eine zentrale Rolle zur Bewertung des Konfliktes und muss für eine widerspruchsarme Bewertung in diesem Fall notwendigerweise die Gesamtheit des globalen Kapitalismus sein. Um diesen Punkt drücken sich die Kräfte, die das Gegenteil argumentieren. Man könnte die Situation – und eine begrenzte Zahl von (stalinistischen) Linken macht das – nicht in erster Linie als Krieg zwischen Russland und der Ukraine verstehen, sondern als inner-ukrainischen Konflikt, in dem die russischsprachigen Rebell*innen im Osten legitimen Widerstand gegen den (west)ukrainischen Nationalismus, die Unterdrückung der russischen Sprache, die „Ukrainisierungspolitik“ der Kiewer Regierung und den Antikommunismus kämpfen. Dabei würden diese „legitimen Rebell*innen“ auf die legitime Unterstützung einer ausländischen Macht (in dem Fall Russland) zurückgreifen, so wie es eben auch die Kiewer Regierung tut. Jedem vernünftigen Menschen wäre dieser Bezugsrahmen, aber richtigerweise zu eng. Ein begrenzter Bezugs- und Analyserahmen führt also notwendigerweise zu absurden politischen Schlussfolgerungen. Dasselbe ist der Fall, wenn man den Krieg alleine auf das Verhältnis Ukraine-Russland reduziert und den globalen Rahmen ausblendet.
Die einzige Antwort aus internationalistischer Sicht kann deshalb nur sein, dass weder die Kiewer-Regierung noch der russische Imperialismus unter Putin eine progressive Antwort bieten kann oder Unterstützung durch die Arbeiter*innenklasse bekommen sollte. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich in diesem Konflikt einfach auf den Standpunkt der bürgerlich-staatlichen Neutralität zurückzieht, wie das zum Beispiel die KPÖ Steiermark macht. Wir verteidigen zwar alles was Österreich daran hindert sich imperialistischen Militärbündnissen anzuschließen, aber das bedeutet nicht, dass wir irgendwelche Illusionen in die österreichische Neutralität schüren wollen. Sie war immer schon scheinheilig. Österreich stand mit beiden Beinen im Lager des internationalen Kapitalismus und das „neutrale Österreich“ war einer der essenziellen Gründungsmythen, um die Arbeiter*innenbewegung (sozialdemokratisch als auch „kommunistisch“) an den österreichischen Staat zu binden.
Wir sind nicht neutral gegenüber dem gerechtfertigten Widerstand in den besetzten Gebieten wie Kherson. Aber wir sagen klar, dass ein legitimer Widerstand gegen die russische Aggression nichts mit einer Unterstützung der durch NATO-Waffen ausgerüsteten Regierung von Zelensky zu tun hat. Überall wo sich die Menschen in der Ukraine direkt an der Basis gegen die russische Aggression verteidigen, müssen wir als Sozialist*innen dafür sein, dass sich dieser Widerstand unabhängig und eigenständig organisiert. Nur eine unabhängige Position der Arbeiter*innenklasse, gegen die ukrainischen Oligarch*innen und den russischen Imperialismus, kann langfristig ein Ausweg aus der imperialistischen Abhängigkeit bieten.
Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ob so ein „doktrinärer“ Zugang angesichts der russischen Aggression nicht irgendwie absurd und weltfremd sei. Natürlich ist es nicht einfach angesichts der sich überstürzenden Ereignisse an einer prinzipienfesten Position festzuhalten. Aber als Linke*r ist man mit ähnlichen Situationen oft genug konfrontiert. Sollte man nicht lieber auf einen grünen Kapitalismus setzen als die ganze Zeit über den Zusammenhang von Kapitalismus und Klimakrise zu schwadronieren, weil für eine Revolution womöglich keine Zeit mehr sei? Mit solchen oder so ähnlichen Argumenten wird man oft konfrontiert. Hier würde wohl kaum ein*r Kommunist*in zögern und argumentieren, dass eigentlich alles was nicht das Problem an der Wurzel angreift weltfremd sei – obwohl es uns allen klar ist, dass eine sozialistische Weltrevolution aktuell alles andere als auf der Tagesordnung steht und wir uns schon mitten in der Klimakatastrophe befinden.
Ähnlich ging es auch den konsequent anti-militaristischen Sozialist*innen am Beginn des Ersten Weltkriegs. Über Nacht waren sie vollkommen von der Masse der Arbeiter*innenklasse isoliert, die eine Welle des nationalen Chauvinismus erfasste.
In jedem kriegsführenden Land des Ersten Weltkriegs gab es ein legitimes Interesse der jeweiligen Bevölkerung auf Verteidigung vor fremder Invasion. In Trotzkis Worten: „die Massen [wollten] keine fremden Eroberer“. Der aber eigentlich zentrale Grund worum der Krieg geführt wurde, war dem jeweiligen imperialistischen Gegner Land, Ressourcen und Märkte abzunehmen. Dieser Grund blieb in den ersten Monaten des Krieges dem größten Teil der Klasse verschlossen, erst nach mühsamen und kargen Jahren wurde der Masse der Arbeiter*innenklasse klar, dass die „Verteidigung des Vaterlandes“ nur leere Worte waren um ihre Entbehrungen zu akzeptieren. Zu diesem Zeitpunkt machte sich die konsequente Haltung von Liebknecht, Luxemburg, Lenin und Trotzki bezahlt, sie hatten in der Phase der chauvinistischen Welle standgehalten und einen revolutionären Antimilitarismus bewahrt. Die restliche zweite Internationale stellte sich aber auf die Seite des eigenen Imperialismus und beging damit einen historischen Verrat an der globalen Arbeiter*innenklasse – das sind die Anfänge der reformistischen und teils nicht einmal mehr linken Sozialdemokratie, wie wir sie heute kennen.
In Zeiten der Militarisierung – noch dazu auf einer durch die Medien und Politik angeheizten populären Stimmung von „Putin die Stirn bieten“ – werden Kommunist*innen immer gegen den Strom schwimmen müssen, das macht diese Politik aber um nichts falscher. Zeitgleich müssen wir aber auch in der Praxis vorzeigen, was unsere Politik bewirken kann. Praktische Solidarität mit Geflüchteten (inklusive aller Deserteur*innen), Organisierung und Vernetzung der internationalen Antikriegsbewegung über Proteste und Aktionen gegen Waffenlieferungen und ein Unterstützen der fortschrittlichsten Kräfte der ukrainischen und russischen Arbeiter*innenklasse stehen auf der Tagesordnung.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine neue Phase der imperialistischen Weltordnung eingeläutet. Die meisten bürgerlichen Ökonom*innen und geopolitischen Expert*innen sind sich darüber im Klaren, dass die Globalisierung nun endgültig vorbei ist. Zwar wurden schon unter Trump erste Anzeichen dafür offensichtlich, dass der Kapitalismus in eine neue Periode eintreten würde, aber die aktuellen Ereignisse machen das noch einmal deutlicher. Die nächsten Jahre bringen vor allem eines mit sich – gefährliche Ungewissheit. Ein Krieg zwischen Großmächten, der vor ein paar Jahren noch absurd schien, ist aktuell so nahe wie seit Generationen nicht. Die Linke und die Arbeiter*innenbewegung muss sich darüber im Klaren sein, dass die kommenden Jahre große Veränderungen bringen werden. Das bringt nicht nur Gefahren mit sich, sondern auch die Chancen auf eine grundlegende große Veränderung, auf Kriege wie auf Revolutionen.
Der Kampf in Österreich
Die Frage erschöpft sich natürlich nicht darin, wie sich Internationalist*innen zu Konflikten in anderen Ländern positionieren, sondern eben auch ganz zentral darin, was das für die politische Situation in Österreich bedeutet. Die reformistische Linke (wie die Sozialistische Jugend, KPÖ, Teile von LINKS) heben sich wenig vom politischen Mainstream ab. Es wird sich auf das „Völkerrecht“ berufen und es werden Sanktionen (wahlweise auch nur gegen russische Oligarch*innen) gefordert. Die KPÖ spricht sich in ihrer Erklärung des Bundesvorstandes von Anfang März zwar klar für eine Abrüstung aus, fordert aber gleichzeitig eine „unabhängige Europäische Sicherheits- und Friedensordnung“, in welchem Verhältnis diese zur EU steht bleibt vage. Statt Waffenlieferungen an die Ukraine fordert die Stellungnahme dann aber auch „Sanktionen gegen seine ökonomische und machtpolitische Basis“. Das wird zwar später auf das Vermögen von russischen Oligarch*innen in den westeuropäischen Wirtschaften bezogen, gibt aber nicht genauer an, ob damit auch die momentan tiefgreifendsten Sanktionen gegen Russland – die vor allem die Arbeiter*innenklasse treffen und in erster Linie Wirtschaftskrieg bedeuten– gerechtfertigt werden. Natürlich weinen wir dem Vermögen russischer Oligarch*innen keine Träne nach, aber die unklare Position der KPÖ lässt doch viel zu wünschen übrig. Den größten Wirtschaftskrieg unserer Lebenszeit muss man klar als das benennen kann was er ist: nämlich eine deutliche innerimperialistische Zuspitzung, sowie ein Angriff auf das Leben und den Lebensstandard von 140 Millionen Russ*innen, um die Interessen des westlichen Imperialismus durchzusetzen. Diejenigen, die das nicht können, verstehen nichts von der internationalen Solidarität der Arbeiter*innenklasse, die es jetzt braucht.
Ähnliche Positionen haben auch Teile von LINKS in den Bezirksvertretungen vorgelegt. In Neubau zum Beispiel, wird in einer gemeinsamen Resolution gutgeheißen, „dass europäische und internationale Akteure diese Verurteilung sowohl durch klare Worte als auch durch Taten wie wirtschaftlichen Sanktionen zum Ausdruck bringen. Nur durch unsere geeinten Kräfte können wir den Frieden und die Freiheit in Europa schützen.“ Damit reiht man sich direkt in eine politische Front mit allen wesentlichen Teilen der österreichischen Bourgeoisie ein. Nicht nur symbolisch, sondern ganz konkret – der Resolutionsantrag wurde von Grünen, NEOS, SPÖ, ÖVP und eben auch LINKS angenommen.
Zwar wird nicht so weit gegangen die militärische Aufrüstung mit voranzutreiben, wie es die SPÖ tut, aber nichtsdestotrotz wird es hier nicht geschafft eine eigenständige politische Position unabhängig von der „eigenen“ herrschenden Klasse und ihrer Parteien zu ergreifen. Sozialistische Politik sieht definitiv anders aus.
Was es stattdessen braucht ist:
- Kompromissloser Kampf gegen die Militarisierung Österreichs und der EU. Keinen Cent für die westlich-imperialistischen Armeen. Nein zu jeder Form der Aufrüstung, Ausbau der Militärkooperation und EU-Armee. Die 10 Milliarden für das österreichische Bundesheer sollten stattdessen in Klima, Bildung, Gesundheit und Soziales investiert werden.
- Konsequente Ablehnung des Wirtschaftskrieges gegen Russland. Die Leidtragenden sind und bleiben die große Mehrheit der russischen Bevölkerung. Stattdessen braucht es praktische Unterstützung der russischen Anti-Kriegsbewegung.
- Nein zu allen Waffenlieferungen – sowohl an Russland wie auch an die ukrainischen Streitkräfte der Regierung Zelensky. Hier wird ausschließlich ein reaktionärer Stellvertreter*innenkrieg finanziert. Stattdessen braucht es die praktische Unterstützung aller Menschen, die sich nicht an diesem Krieg beteiligen wollen, Fluchthilfe für Deserteuer*innen auf beiden Seiten!
- Für den sofortigen Abbruch aller Kooperationen Österreichs mit der NATO, wie der „Partnerschaft für den Frieden“ oder „Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat“. Konsequente Ablehnung aller Überflugs- und Transittransportrouten über und durch Österreich. Gegen jegliche NATO-Ostverlegung!
- Aufnahme aller Geflüchteten aus der Ukraine und von überall. Zurückweisung aller reaktionären Trennungen von „Vertriebenen“ und „Geflüchteten“ – offene Grenzen, sichere Fluchtrouten und Aufenthalts- sowie Arbeitsrecht für alle!