In den letzten Monaten konnten wir ein positives Wirtschaftswachstum der wichtigsten Volkswirtschaften sowie der Weltwirtschaft insgesamt beobachten. Gleichzeitig und damit zusammenhängend einen kontrollierteren und vermeintlich harmloseren Verlauf der Pandemie, verbunden mit Impffortschritten und saisonalem Effekt. Es wirkt beinahe so als wäre die Krise vorbei oder zumindest das Schlimmste überstanden. Doch schon verdüstert sich der Horizont von neuem. Die vierte Welle der Pandemie türmt sich auf, mit unbekannten Auswirkungen. Die Niederlage der USA in Afghanistan reißt ein tiefes Loch in die imperialistische Weltordnung. Hitzewellen, Waldbrände, Überflutungen und Wirbelstürme weisen apokalyptisch auf die sich entfaltende Klimakatastrophe. Und in Österreich? Auch hier ist man längst nicht mehr verschont von den Übeln des Kapitalismus. Wie überall sonst auch stellt sich die Frage nach der vor sich gehenden politischen und ökonomischen Dynamik, welche das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen entscheidend beeinflusst und maßgebend für die Perspektiven aller fortschrittlichen Kräfte sein muss.
Zustand der Weltwirtschaft
Die Weltwirtschaft erlebt derzeit ein starkes Wirtschaftswachstum, was natürlich positive Auswirkungen auf das Wachstum in Österreich hat. In diesem Jahr soll es global 6,0 % betragen (Gesamtwirtschaftliche Prognose der OeNB für Österreich 2021 bis 2023). Das ist keineswegs verwunderlich. In der „Corona-Krise“ konnten wir einen beispiellosen internationalen Einbruch der Wirtschaft erleben, der nicht nur tief sondern auch synchron verlief. Die Eindämmungsmaßnahmen und Lockdows trugen wesentlich dazu bei. Auf die Rezession folgt nun die Erholung und vor dem Hintergrund der Tiefe des Einbruchs, gerade auch bedingt durch Schließung von Wirtschaftssektoren bei gleichzeitiger Rettung der meisten Unternehmen, fällt die Erholung mit einem kräftigen Wachstum aus. Allerdings: War der Einbruch synchron, so ist es der Aufschwung keineswegs. Was wir beobachten ist ein Wachstum der entwickelten, imperialistischen Länder, vor allem in den USA (+6,6 %) und in Asien (ohne Japan +7,9 %). Auch die Europäische Union erholt sich, wenn auch nicht ganz so gut (im Euroraum +4,6 %). In den weniger entwickelten, abhängigen Ländern verläuft das Wachstum weitaus schwächer, die Erholung langsamer. Während die fortgeschrittenen Länder laut Prognose schon im dritten Quartal 2021 ihr Vorkrisenniveau überschreiten sollen, verbleiben die sogenannten Schwellenländer mittelfristig unter diesem Niveau. Das wird die internationale Ungleichheit weiter vergrößern und die Abhängigkeit der neokolonialen Welt (z.B. die stark von der Krise betroffenen Länder Lateinamerikas) verstärken. Die Ungleichzeitigkeit bedeutet auch eine generelle Vulnerabilität des Aufschwungs, noch dazu angesichts der weiterhin grassierenden Pandemie. Das veranschaulichen sowohl die Lieferengpässe in der Halbleiter-Industrie als auch die vor kurzem erfolgte teilweise Schließung des drittgrößten Hafens der Welt in China aufgrund einer Infektion. Generell sollten wir keine längerfristige, nachhaltige Dynamik der kapitalistischen Ökonomien erwarten. Eine solche kann nur auf einer gesteigerten Profitabilität basieren. Aber die Profitraten sind weiterhin niedrig und das unprofitable Kapital wurde vor seiner Vernichtung bewahrt während die Verschuldung noch weiter gestiegen ist (siehe Michael Roberts: Some notes on the world economy now).
Konjunktur in Österreich
Im Vergleich zum Euroraum verläuft die Erholung in Österreich noch ein Stück weit schwächer (+3,9 %). Ein wesentlicher Faktor dafür ist der immer noch stark von der Krise betroffene Tourismus, welcher im Winter beinahe einen Totalausfall erlitt. Lockerungen über den Sommer brachten zwar eine Erholung, aber nachdem viele Beschäftigte im Tourismus entlassen worden waren, sah sich die Branche nun mit einem akuten Personalmangel konfrontiert. Wovon die österreichische Wirtschaft derzeit mehr profitiert, ist eine rasche Erholung von Güterexporten (+7,1 %) aufgrund der positiven internationalen Entwicklung. Diese erlitten im vergangenen Jahr mit 10,9 % einen drastischen Einbruch aufgrund von Corona-Eindämmungsmaßnahmen und Unterbrechungen in internationalen Lieferketten. Bis zum Jahresende erreichten sie allerdings schon wieder das Vorkrisenniveau. Auch die Industrieauslastung stieg bis zur Jahresmitte 2021 wieder schnell an und liegt mittlerweile über dem langjährigen Durchschnitt. Die Industrieunternehmen klagen jedoch weiterhin über Vormaterialengpässe. Die Industriekonjunktur erfährt nach einem Einbruch von 4,8 % der Bruttoanlageinvestitionen im letzten Jahr wieder einen Anstieg um 4,7 %, besonders getrieben durch nachzuholende und notwendige längerfristige Investitionen, soll sich aber in den folgenden Jahren wieder abkühlen.
Vierte Welle
Die anhaltende Corona-Pandemie stellt natürlich weiterhin ein Risiko für die ökonomische Entwicklung dar. Aktuell rast Österreich ungebremst auf die vierte Welle zu. Seit Ende Juli hat sich die 7-Tage-Inzidenz innerhalb eines Monats verdreifacht und liegt nun Ende August bei rund 103 pro 100.000 Einwohner*innen. Das sind beinahe 19.000 aktive Fälle. In der ersten Corona-Welle gab es am Höhepunkt nicht einmal 10.000 aktive Fälle. Allerdings liegen die Hospitalisierungen sowie Intensivfälle noch deutlich unter den damaligen Werten. Das zeigt einerseits die Wirksamkeit der Schutzimpfungen, was man auch am Verhältnis der Geimpften zu Ungeimpften in den Krankenhäusern sehen kann (andererseits die Tatsache, dass in der ersten Welle das Testwesen deutlich unterentwickelt war). Geschätzt liegt die Immunisierung in der Bevölkerung durch Impfung und überstandene Erkrankung bei maximal 70 %. Laut allen Expert*innen ist das zu wenig und der Impffortschritt mittlerweile zu langsam. Noch dazu zeigt das Beispiel Israel, dass auch schon Geimpfte in großem Ausmaß erkranken können, weil der Impfschutz mit der Zeit nachlässt. Das alles könnte das Gesundheitssystem wieder an die Belastungsgrenzen bringen und einen erneuten (Teil-)Lockdown bedeuten. Daher versucht die Politik nun die Anreize zum Impfen zu erhöhen. So schränkt die Stadt Wien die zeitliche Gültigkeit von Corona-Zutrittstests ein und die Tendenz geht immer weiter in Richtung 1G-Regel. Es scheint allerdings so, als ob die Politik rechtzeitige und sinnvolle Maßnahmen zur Eindämmung mal wieder verschlafen hat.
Krisenbewältigung
Die Corona-Krise hat ein riesiges Loch in den Staatshaushalt gerissen. Im vergangenen Jahr lag das Defizit bei 8,9 % der Wirtschaftsleistung, dieses Jahr soll es noch 6,9 % betragen. Das Maastricht-Kriterium, welches höchstens 3 % Budgetdefizit vorsieht, sollte laut Budgetplanung im letzten Herbst erst 2023 wieder unterschritten werden. Mit dem Auslaufen von Corona-Hilfsmaßnahmen sollte auch das Budgetdefizit zurückgehen. Ob das tatsächlich im erhofften Ausmaß passiert, ist aufgrund der vierten Welle mehr als fraglich. Was der Konsolidierung des Staatshaushalts zugute kommt sind die geringfügig negativen Zinssätze. Die Schuldenquote soll dieses Jahr den Höhepunkt von 85,1 % des BIP erreichen und danach wieder rückläufig sein. Ein großes Sparpaket hat die Regierung noch nicht in Aussicht gestellt, je nach weiterer Konjunkturentwicklung wird sie sich womöglich auch davor hüten müssen. Mittelfristig wird sie zumindest innerhalb der bürgerlichen Logik nicht ohne gewisse Konsolidierungsmaßnahmen auskommen, insbesondere wenn sich der Wirtschaftsaufschwung in den Folgejahren verlangsamt.
Politische Brennpunkte
Der Glaube an die überstandene Krise beflügelt auch den Arbeitsminister Martin Kocher eine Arbeitsmarktreform anzugehen: „Wenn wir sehen, dass sich der Arbeitsmarkt weitgehend normalisiert hat, werden wir im Herbst die Diskussion starten.“ Für Arbeitslose lässt das nichts Gutes erhoffen. Unlängst hatte schon der ÖVP-Wirtschaftsbund gefordert, das Arbeitslosengeld langfristig auf 40 % des letzten Gehalts zu kürzen – mit dem Lockvorschlag, den Betrag anfangs auf 70 % zu erhöhen aber über die Bezugszeit zu verringern. Ein solches degressives Modell hätte auch der Arbeitsminister gerne. Zusätzlich meldete sich nun AMS-Chef Johannes Kopf vorpreschend zu Wort und warf das Verbot oder die Einschränkung der Zuverdienstmöglichkeit in die Diskussion. Diese erlaubt es Arbeitslosen bis zu 475 Euro dazu zu verdienen. Das solle vor allem Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung bringen weil vor allem niedrig entlohnte Branchen kein Personal fänden. Anstatt also über höhere Löhne nachzudenken, soll der Druck auf Arbeitslose so erhöht werden, dass sie auch schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen oder trotzdem arbeitslos bleiben, weil es ohnehin nicht genügend offene Stellen gibt. Das würde viele Menschen in die Armut treiben und durch die Ausweitung prekärer Beschäftigung die Kampfkraft der Arbeitenden schwächen.
Ein weiterer Brennpunkt könnten die Kollektivvertragsverhandlungen im Herbst sein. Die Inflation ist zuletzt deutlich angestiegen, im Juni auf 2,8 % und um Juli auf 2,9 %. Die Hauptpreistreiber sind Verkehr (8,1 %) und Wohnen (v.a. Haushaltsenergiepreise 7,1 %). Der Miniwarenkorb, der einen wöchentlichen Einkauf repräsentiert, verteuerte sich im Jahresabstand um 6,1 %. Die Gewerkschaften werden also mit höheren Forderungen als in den vergangen Jahren in Lohnverhandlungen gehen müssen, während die Kapitalvertreter*innen mit Verweis auf die prekäre ökonomische Lage blockieren werden. Sprich die Kapitalist*innen werden noch mehr als immer versuchen den Aufschwung auf Kosten der Arbeiter*innen zu finanzieren.
Fortschrittliches Potential besteht auch durch die in der Öffentlichkeit gesteigerte Sensibilität für Gewalt gegen Frauen, die sich in der gehäuften Berichterstattung über Femizide darstellt. Die Regierung hatte dazu ein Maßnahmenpaket vorgestellt, welches vor allem polizeiliche Ansätze enthält. Das Problem ließe sich aber in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext thematisieren, welcher die bürgerliche Kleinfamilie, die darin bestehenden Abhängigkeiten und die Verteilung von Reproduktionsarbeit selbst in den Blick nimmt. Anlässe dafür gibt es genug, zum Beispiel die jüngste Aussage des Bundeskanzlers in einem Sommergespräch, dass seine bevorstehende Vaterschaft nichts an seinem Arbeitspensum ändern werde, er aber helfen würde soweit es möglich sei.
Zusätzlich gibt es brisante politische Auseinandersetzungen, welche die Widersprüche in der türkis-grünen Koalition zuspitzen (dazu wird auch die Arbeitsmarktreform zählen). Zum einen ist das die Weigerung der ÖVP, selbst nach der Machtübernahme durch die Taliban, Menschen aus Afghanistan Asyl zu gewähren. Österreich bildet damit die reaktionäre Speerspitze in Europa, gestützt von den Grünen. Zum anderen ist da die Auseinandersetzung um neue größere Straßenbauprojekte wie die Lobau-Autobahn in Wien oder die S34 in Vorarlberg. In beiden Fällen gibt es schon Proteste, bemerkenswerter Weise auch von Bäuer*innen am eben stattgefundenen ÖVP-Parteitag. Die ÖVP möchte die Projekte durchsetzen, während das für die Grünen eine ernsthafte politische Niederlage wäre. Das größere Thema Klimakrise war nicht nur diesen Sommer erfahrbar, die Auseinandersetzungen darum werden vor dem Hintergrund der Erfüllung gesteckter Klimaziele in den kommenden Jahren an Schärfe zunehmen. Die Aufgabe von Antikapitalist*innen sollte daher sein, die Klimabewegung auf die Arbeiter*innenklasse zu orientieren und in der (verbürgerlichten) Arbeiter*innenbewegung (insbesondere den Gewerkschaften) einen Kampf für eine radikale Umweltpolitik zu führen. Für diesen Kampf benötigen wir einen klares Programm, eine Partei und starke Allianzen!