Die Rolle einer Führung: Die antikapitalistische Partei braucht einen Kopf

Die grundlegende Einsicht von Kommunist*innen ist, dass der Kapitalismus durch die Arbeiter*innen überwunden werden muss. Hoffnungen in die automatische Entwicklung dieses „revolutionären Subjekts“ zu Revolutionär*innen sind leider unangebracht. Die Aktivist*innen, die aus ihrem Verständnis des Kapitalismus heraus Sozialist*innen geworden sind, müssen ihr Programm in konkrete Vorschläge zum Sturz der Herrschenden verwandeln, die von der Arbeiter*innenklasse angenommen werden. Als Avantgardepartei versuchen sie so, bestehende Kämpfe für eine sozialistische Perspektive zu gewinnen und ihnen eine Führung zu geben.

Auch unter den Revolutionär*innen, in der Partei, wird eine Führung gewählt die die gemeinsam beschlossene Strategie (den Weg zum Ziel) weiterentwickelt und in konkrete Aktionen und Taktiken herunterbricht. Die Frage der Führung, und ihre Bindung an die Klasse, ist entscheidend. Gleichzeitig ist die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung voll von verräterischen Führungen, die das Interesse der Unterdrückten am Sturz des Kapitalismus für eine Vermittler*innenrolle zwischen Arbeiter*innen und Kapital verkauften. Die Ablösung der Führung von der Basis muss man verstehen und verhindern.

Führung der Klasse und Führung der Partei

Der russische Kommunist Vladimir Lenin legte die Grundlagen für die erste Arbeiter*innenrevolution, die sich halten konnte: Die Oktoberrevolution 1917. Seine Herangehensweise war der Aufbau einer Partei, die vom täglichen Kampf um demokratische Rechte über die Durchführung der Revolution bis zum Aufbau des Kommunismus in der Lage sein sollte, die Interessen der Arbeiter*innen herauszuarbeiten, zu erklären und mit der Klasse umzusetzen.

Die bolschewistische Partei war über die längste Zeit keine Massenpartei, sondern arbeitete als Minderheit in der Arbeiter*innenbewegung. In den entscheidenden Momenten, vor allem in der Revolution und dem Aufbau von Arbeiter*innenräten als Gegenmacht zu Zarismus und bürgerlichem Parlament, wurde sie aber zur Führung der Arbeiter*innenklasse. Die Arbeit in Gewerkschaften, demokratischen und ökonomischen Kämpfen schaffte die Fusion von Kommunismus und Arbeiter*innenbewegung.

Lenins These war, dass die Arbeiter*innen sich nicht automatisch zur Revolutionär*innen entwickeln, nur weil der Kapitalismus ein täglicher Graus ist. Stattdessen ist es eine wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft, aus der die Notwendigkeit des Sozialismus und die Rolle der Arbeiter*innen als revolutionäres Subjekt herauskommen. Das revolutionäre Subjekt sind diejenigen, die nicht nur das bestehende System entmachten, sondern auch eine klassenlose Gesellschaft aufbauen können, weil sie die notwendige Produktions- und Reproduktionsarbeit ohnehin schon selbst machen und schon vom Eigentum an Produktionsmitteln befreit sind, somit kein eigenes Ausbeutungsinteresse haben. Die Organisierung der Klasse zur Überwindung des Kapitalismus ist die Führungsaufgabe der Partei.

Im Unterschied dazu stehen die Verelendungstheorie und der Glauben an die Spontanität der Klasse. Die Verelendungstheorie sagt ungefähr, dass der Kapitalismus die Lebensrealität der Massen immer weiter verschlechtern wird, bis sie automatisch einsehen, dass er überwunden werden muss. Stattdessen aber entsteht daraus nur ein Bewusstsein für notwendige Verbesserungen und die dazugehörigen gewerkschaftlichen Organisierungsformen.

Eine ähnliche Idee ist, dass die Arbeiter*innenklasse sich spontan selbst organisieren und erheben wird, wenn sie nur mit der notwendigen Bildung und Solidarität versorgt wird. Rosa Luxemburg vertrat zeitweise so ein Konzept, in dem die Partei das Gefäß ist in dem die Arbeiter*innen sich organisieren und stärken können, um dann ohne große Führung die demokratische und sozialistische Revolution durchzuführen. Ihre Idee der gleichzeitigen Momente von Spontanität und Organisierung der Klasse will die Partei als mutig vorzeigende Vorhut, aber nicht als Führung der Klasse sehen.

Dem stellt Lenin die Partei als durchaus debattenfreudige Organisation dar, die aber straff genug organisiert sein muss, um den Kapitalismus mit seinem Polizei- und Militärapparat tatsächlich überwinden zu können, auch wenn sich der mit Zähnen und Klauen wehrt. Die Partei so zu organisieren, ihre Mitglieder dazu befähigen, Kämpfe in ihrem Umfeld anzuführen, sich politisch zu streiten und die Massen für das revolutionäre Programm gewinnen, das ist die Führungsaufgabe der Partei.

Die Gefahr einer bürokratischen Führung

Der russische Revolutionär und anti-stalinistische Oppositionelle Leo Trotzki setzte sich in den 1930er-Jahren viel mit der Frage der revolutionären Führung auseinander. In einem Streitbeitrag „Klasse, Partei und Führung“ diskutierte er am Beispiel des spanischen Bürger*innenkriegs bessere und schlechtere Ideen, als Arbeiter*innenpartei die Macht zu erobern.

Der spanische Bürger*innenkrieg ab 1936 war ein wichtiger Moment für Marxist*innen, weil zum ersten Mal seit der russischen Revolution Parteien der Arbeiter*innenklasse (Kommunist*innen, Stalinist*innen, Sozialdemokrat*innen und Anarchist*innen) an der Macht waren und das im Zuge einer revolutionären Erhebung der Massen. Die Selbstorganisierung von Arbeiter*innen in Milizen, schrittweise Entmachtung von Kapitalist*innen und Großgrundbesitzer*innen war ein riesiger Schritt für die weltweite Arbeiter*innenbewegung. In Widerstand und Niederlage gegen die faschistische Konterrevolution unter Franco wurden aber die Schwächen der einzelnen Parteien erst offensichtlich, dann zum Verhängnis.

Auch Trotzki beschäftigt sich mit den zwei Rollen der Führung. Auf der einen Seite regt er sich darüber auf, wenn die politische Schwäche der spanischen Revolution, die Bündnisse mit bürgerlichen Parteien und das damit verbundene Aufrechterhalten kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse mit schwammigen objektiven Umständen entschuldigt werden. Auch wenn die Führung der Arbeiter*innenbewegung aus den Auseinandersetzungen innerhalb der Klasse hervorgeht, betont er die persönliche Verantwortung der Aktivist*innen an der Spitze. Eine Verantwortung ein solides Verständnis zu erarbeiten, ein Programm zu erarbeiten das von der jetzigen Situation bis zum Aufbau des Sozialismus die entscheidenden Punkte beinhaltet, eine Verantwortung keine Zugeständnisse zu machen, wenn es um den Kern der Sache geht.

Das bedeutet nicht, sich zwanghaft von denen abzugrenzen, die die eigene Meinung nicht teilen: „Die Führung darf nicht der Masse das revolutionäre Programm als Ultimatum vorsetzen und falls es nicht angenommen wird, die Unterstützung vor dem gemeinsamen Kampf entziehen. Sonst kann sich die Avantgarde niemals mit der Masse verbinden.“

Aber Trotzkis Erfahrung der linken Opposition in der Sowjetunion und seine Abschiebung durch die stalinistische Bürokratie lassen ihn einen weiteren Aspekt aufmachen: Die Gefahr einer Führung, die sich von der Basis ablöst. Die Führung der Arbeiter*innenbewegung wird in Klassenkämpfen und in Auseinandersetzungen zwischen Schichten der Klasse geformt. Eine Partei, die sich auf die wohlhabendsten Schichten stützt, oder die Teile der Arbeiter*innenklasse die am Absprung ins Bildungsbürger*innentum sind, wird den Kampf gegen den Kapitalismus weniger konsequent führen als eine, die aus Aufständen gegen Hungerlöhnen hervorgeht.

Anfang des 20. Jahrhunderts geschieht das in den sozialdemokratischen Parteien, ihre Führung entwickelt sich zu einer Bürokratie deren Existenzberechtigung Verhandlungen mit den Herrschenden sind. Die ideologische Strömung des Reformismus gibt die Überwindung des Kapitalismus auf und lässt sich auf den strategischen Schulterschluss mit den Unternehmer*innen im Austausch für kleine Verbesserungen ein. Die soziale Basis der sozialdemokratischen Bürokratie sind privilegierte Schichten der Klasse, gut qualifizierte Arbeiter*innen und Verwaltungsangestellte.

Einen ähnlichen Verrat erlebt die bolschewistische Partei in der Sowjetunion. Nach der erfolgreichen Revolution sterben im Bürger*innenkrieg die mutigsten Arbeiter*innen aus der Partei. Stattdessen strömen viele Karriererist*innen und Kleinunternehmer*innen in die Partei. Auf deren Unterstützung und den Aufbau des „Sozialismus in einem Land“, sprich das Aufgeben der Weltrevolution, stützt sich die stalinistische Bürokratie. In den 1920er- und 1930er-Jahren wird die Partei von den Kommunist*innen „gesäubert“ die die Revolution angeführt haben, Schauprozesse, Arbeitslager und die Ermordung vieler hoher Parteikader, inklusive Verbannung des Revolutionsführers Trotzki selbst, prägen den Aufstieg des Stalinismus.

Die Führung der revolutionären Partei wurde nahezu komplett ausgetauscht, die verbliebenen Teile lösen sich vom Interesse der Arbeiter*innen an der weltweiten Revolution und konzentrieren sich auf ihren eigenen Machterhalt als privilegierte Verwalter*innen des neuen Systems. Das gelingt auch, weil ihre Macht quasi unanfechtbar ist und die Parteibasis von der Führung keine Rechenschaft mehr einfordern kann.

Kollektive Führung, Rechenschaft und Abwählbarkeit

Lenin und Trotzki zeigen in Theorie und Praxis, dass es notwendig ist den Kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung mehr als gute Empfehlungen mitzugeben. Die Aufgabe von Revolutionär*innen ist die Organisierung der Klasse rund um das große Projekt, den Kapitalismus zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen. Dafür muss ihre Partei arbeitsteilig vorgehen: Die Aufgabe der Parteileitung ist es, eine Strategie zum Aufbau der Partei und zur Umsetzung ihres Programms in konkrete Erfolge zu organisieren.

Die Arbeiter*innenbewegung und auch die revolutionäre Partei ist voller unterschiedlicher politischer Vorstellungen, in Kleinen wie im Großen. Die drücken verschiedene Interessen innerhalb der Klasse, das Einwirken von mächtigen Ideologien in die Klasse hinein (zum Beispiel Nationalismus), aber auch Irrtümer und gute Ideen aus. Diese politischen Unterschiede müssen ausdiskutiert und in der Praxis gelöst werden, damit eine Partei ihre Kämpfe gemeinsam führen kann. Diese politischen Pole müssen sich auch in der Führung ausdrücken: Das nennen Kommunist*innen eine „kollektive Führung“, in der die verschiedenen Teile vertreten sind, die Mehrheit ihren Kurs umsetzen kann aber auch Minderheiten ihre Positionen vorbringen können. Wenn die Führung die Zusammensetzung der Partei abbildet verhindert das auch bis zu einem gewissen Punkt, dass sie sich von der Mitgliedschaft ablöst.

Die Leitung hat eine besondere Verantwortung innerhalb der Partei, sie muss für ihre Fehler geradestehen. Das muss in konkrete Strukturen gegossen werden: Die Debatte über ihre Arbeit, aber auch ihre jederzeitige Abwählbarkeit, hemmen eine Machtkonzentration in den Händen einzelner Personen oder Cliquen. Das gilt im weiteren Sinne auch für die Partei, wenn sie Kämpfe anführt. Im Sinne der Arbeitsteilung wachsen beide auch als eigene Körper zusammen. Es ist aber entscheidend, dass die Führung nicht zur Organisation in der Organisation wird.

Aktivist*innen in Führungspositionen haben erstmal dieselben Rechte und Pflichten wie alle anderen, gleichzeitig natürlich mehr Zugang zu Informationen und mehr Entscheidungsmacht. Dementsprechend muss die Führung auch an gemeinsamen Aktivitäten teilnehmen, mit der ganzen Partei kämpfen, damit wirkliche Solidarität und Zusammenarbeit entsteht.

Den Kapitalismus zu überwinden ist die Aufgabe von Marxist*innen. Sie müssen dafür so mit den Unterdrückten arbeiten, die genau das können, und sich selbst so organisieren, dass das gelingt. Um den doch recht starken Machtstrukturen des Systems etwas entgegensetzen zu können, reicht es nicht auf die spontane Entwicklung zum revolutionären Bewusstsein oder die Selbstorganisation zu hoffen. Gleichzeitig wird eine Revolution nicht gelingen oder wieder besiegt werden, wenn die Führung sich von ihrer Basis ablöst. Die Rolle der Führung, ihre ideologische und soziale Basis zu verstehen ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das gelingt.