Langzeitpflege als systematisierte Ausbeutung: Die 24-h-Betreuung in Österreich

Mit der Corona-Krise sind auch die, vielfach aus Rumänien kommenden, 24-h-Betreuer*innen in die mediale Aufmerksamkeit gerückt. Die 24-h-Betreuung ist einer der Pfeiler der Langzeitpflege in Österreich, die ca. 5% der Pflegebedürftigen in Anspruch nehmen (können). Die im Zuge der Corona-Maßnahmen verhängten Reisewarnungen führten dazu, dass 24-h-Betreuer*innen nicht mehr so einfach aus Rumänien nach Österreich pendeln konnten, um hier für 2-6 Wochen durchgehend eine pflegebedürftige Person zu betreuen. Groß war der öffentliche Aufschrei, die Pflege in Österreich sei nicht mehr gesichert, Familien würden alleine gelassen, Familien müssten die Betreuung ihrer älteren Angehörigen von heute auf morgen selbst übernehmen. Relativ rasch wurde eine Lösung gefunden: Eigens für 24-h-Betreuer*innen gecharterte Flüge und Züge wurden bereitgestellt, um die vorwiegend weiblichen Arbeitskräfte von Rumänien nach Österreich zu bringen. Das Perfide: Die Art des Reisens war für viele der Betreuer*innen um ein Vielfaches komfortabler als ihr üblicher Arbeitsweg. Die meisten Betreuer*innen kommen über Agenturen nach Österreich, die den Transport in Sammeltaxis organisieren. Hier kommt es nicht selten zu Verkehrsunfällen, bei denen Betreuer*innen verletzt oder getötet werden.

Kaum in Österreich, ging die systematische Unterdrückung der 24-h-Betreuer*innen weiter. Für die Einhaltung der 14-tägigen Quarantänepflicht wurden von den Agenturen (auf Kosten der Betreuer*innen) Hotels in der Nähe des Flughafens Wien Schwechat angemietet, zugleich wurden den Betreuer*innen in einem skandalösen, rechtswidrigen Akt von der Polizei die Reisedokumente abgenommen. Die funktionierende und schlagkräftige Selbstorganisierung dagegen führte erfreulicherweise schnell zur Rückerstattung ihrer Papiere. Doch auch die Arbeitsbedingungen sind härter geworden: Verpflichtung zu regelmäßigen Testungen, strengere Hygienemaßnahmen und die Gefahr der Ansteckung durch Corona sind nur einige Beispiele dafür. Die Kosten tragen, wie immer, die 24-h-Betreuer*innen selbst.

Die 24-h-Betreuung als Aushebelung geltender Arbeitsrechte

Dieses kurze mediale Aufflackern der 24-h-Betreuung ist weder neu noch unbekannt. Der Legalisierung der 24-h-Betreuung im Jahr 2007 ging eine massive mediale Öffentlichkeit voraus. Längst war bekannt, dass Haushalte, die es sich leisten konnten, Frauen aus Osteuropa illegal zur Pflege und Betreuung „anstellten“ und für Wochen oder Monate im Haushalt leben ließen. Diese bis dahin illegale Praxis kochte im Nationalratswahlkampf 2007 erneut emotional aufgeladen hoch. Die Betreuer*innen selbst wurden in diversen Tageszeitungen als „Engel aus Osteuropa“ bezeichnet, ohne die die Versorgung der Älteren nicht mehr gewährleistet werden könne. Kein Wort von den Arbeitsbedingungen, denen sie ausgesetzt sind, kein Wort von der Ausbeutung und auch kein Wort davon, dass es sich um eine sehr kleine Gruppe österreichischer Haushalte handelte, die sich diese Form der Pflege überhaupt leisten konnten. Der massive Druck wirkte: Nach der Bildung der Koalition aus SPÖ und ÖVP wurde die bis dato illegale Praxis rasch legalisiert, verantwortlich dafür zeigte sich federführend das sozialdemokratisch geführte Sozialministerium. Dort entstanden auch die Leitfäden für die 24-h-Betreuung, die Handbücher und der juristische Clou, die 24-h-Betreuung als Betreuung und nicht als Pflege zu titulieren. Nur durch diese Abgrenzung nämlich war es möglich, dass Arbeitskräfte ohne die sonst notwendige Ausbildung im Pflegebereich die Betreuung in Privathaushalten übernehmen durften. Seit der Legalisierung stellt der Staat zusätzlich bei entsprechender Pflegestufe eine Förderung für die Betreuer*innen bereit.

Für das Konstrukt der 24-h-Betreuung musste erst das Hausbetreuungsgesetz in Kraft treten, dieses stellt insbesondere durch die Trennung von Pflege und Betreuung die arbeitsrechtliche Basis der 24-h-Betreuung dar. Personenbetreuung ist damit ein Beruf zur Unterstützung von Personen im privaten Haushalt, womit das „Dasein“ zu einer Berufskategorie innerhalb des privaten Haushalts wird. Dieses „Dasein“ wurde als Rechtfertigung genommen, um im Hausbetreuungsgesetz für die Sphäre des Privathaushalts schlechtere arbeitsrechtliche Standards festzulegen, als jene, die außerhalb gelten. Denn die individuellen Bedürfnisse Pflegebedürftiger (wie etwa Spazieren, Vorlesen, also allgemein „Dasein“) könne man mit dem geltenden österreichischen Arbeitsrecht nicht stillen.

Prinzipiell kann die 24-h-Betreuung sowohl selbstständig als auch unselbstständig durchgeführt werden. Doch auch in der wenig praktizierten unselbstständigen Form wird durch das Hausbetreuungsgesetz das Arbeitsrecht massiv ausgehebelt. Es gelten hier z.B. sogenannte erweiterte Arbeitszeitgrenzen: So wird die max. Arbeitsbereitschaft für 2 Wochen auf max. 128 Stunden reglementiert, die Betreuerin muss innerhalb von 24 Stunden mind. 3 Stunden Ruhepause erhalten, davon 2 Mal 30 Minuten ohne Unterbrechung. In den verbleibenden 21 Stunden muss sie arbeitsbereit sein, 11 Stunden davon darf sie auch tatsächlich im Arbeitseinsatz sein und sie darf max. 14 Tage durchgehend im Haushalt tätig sein.

Überwiegend wird die 24-h-Betreuung aber selbstständig ausgeführt. Auch diese wird durch das Hausbetreuungsgesetz geregelt, indem das freie Gewerbe der Personenbetreuung eingeführt wurde. Für die Anmeldung des Gewerbes sind grundsätzlich keine Qualifikationen notwendig, für den Erhalt der Förderung vom Bund gibt es gewisse Auflagen wie etwa den Nachweis einer theoretischen Ausbildung als Heimhelferin. Als Selbstständige sind die 24-h-Betreuer*innen Mitglieder in der Wirtschaftskammer, zählen dort zu den Ein-Personen-Unternehmer*innen und werden (theoretisch) von dieser vertreten. Die Vermittlung zwischen Betreuer*innen und Privathaushalten erfolgt meist über sogenannte Vermittlungsagenturen, wofür 2015 das Gewerbe der „Vermittlung zur Personenbetreuung“ geschaffen wurde. Auch die Vermittlungsagenturen werden von der Wirtschaftskammer vertreten.

Das Dilemma der 24-h-Betreuung

Allein die Darstellung des Konstrukts der 24-h-Betreuung zeigt die verschiedenen Ausbeutungs- und Machtdynamiken dieser Regelung auf. Erstens wird durch die mit dem Hausbetreuungsgesetz vorgenommene strikte Abgrenzung des Privathaushalts von allen anderen Arbeitsorten die Ungleichbehandlung aller Lohnabhängigen im Privathaushalt rechtlich festgeschrieben und somit legitimiert. Dies führt zu einer massiven Spaltung unter den Arbeiter*innen: Jene, für die das erkämpfte Arbeitsrecht gilt und jene, die mit einem schlechten Abklatsch dessen auskommen müssen. Zweitens wird durch das Hausbetreuungsgesetz der Privathaushalt als Arbeitsort festgeschrieben und somit unwiderruflich in die kapitalistische Verwertungslogik eingespeist. Pflegebedürftige werden zu „Unternehmer*innen“ ihrer selbst gemacht, die sich ihre existentiell notwendige Versorgung zukaufen müssen. Damit vollzieht sich die 2. Spaltung der Arbeiter*innen: Der privilegierte Teil der Arbeiter*innen, der sich die 24-h-Betreuung leisten kann, wird durch diese Regelung aus Mangel an Alternativen dazu gezwungen, die prekären Verhältnisse der Arbeiter*innenklasse mitzuorganisieren. Die österreichischen Pflegebedürftigen werden gegen die osteuropäischen Betreuer*innen ausgespielt, womit sich die rassistische Spaltung der Arbeiter*innenklasse verfestigt. Drittens zeigt sich an der 24-h-Betreuung beispielhaft das Versagen der etablierten Institutionen der Arbeiter*innenbewegung; Gewerkschaften und Arbeiterkammer. Während die privilegierten Gruppen der österreichischen Arbeiter*innen zu Profiteur*innen der Unterbezahlung der osteuropäischen Arbeiter*innen gemacht werden, stellen sich die Gewerkschaften und die Arbeiterkammer ganz klar auf die Seite der Privilegierten und werden damit zu Gehilf*innen der rassistischen Arbeitsteilung anstatt gemeinsam und solidarisch für eine Langzeitpflege zu kämpfen, die unter würdigen Bedingungen für beide Seiten stattfindet. Viertens zeigt die 24-h-Betreuung beispiellos das Totalversagen der Sozialdemokratie in Österreich auf: Anstatt die Langzeitpflege für die gesamte Arbeiter*innenklasse auf menschenwürdige Beine zu stellen, wurden sie zu Architekt*innen dieses Systems moderner Sklaverei, das wiederum nur einem geringen Teil der Arbeiter*innenklasse überhaupt den Zugang zu Langzeitpflege gewährt.

Mögliche Perspektiven für die 24-h-Betreuung

Klar ist: Die 24-h-Betreuung muss in der derzeitigen Form abgeschafft und ausgehebelt werden. Langzeitpflege muss eine sozialstaatliche Leistung werden, die allen Lohnabhängigen als soziales Recht zusteht und die unter gesellschaftlich üblichen, guten arbeitsrechtlichen Bestimmungen durchgeführt wird. Das Recht auf Pflege darf nicht zum Recht auf Billigstarbeitskräfte werden. Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Situation der 24-h-Betreuung ist die zunehmende Selbstorganisierung der 24-h-Betreuer*innen. Eine ihrer zentralen Forderungen ist die Abschaffung der (Schein-)Selbstständigkeit. Doch solange es sich bei der 24-h-Betreuung um eine Personenbetreuung innerhalb des Haushalts handelt, geht diese Forderung nicht weit genug. Auch die Unselbstständigkeit führt zu massiver Umgehung des Arbeitsrechts. So ist es notwendig zugleich die Abschaffung des Hausbetreuungsgesetzes zu fordern und für eine Langzeitpflege zu kämpfen, in der der private Haushalt nicht mehr der primäre Ort der Versorgung ist. Vereinsamung und totale emotionale Abhängigkeit von betreuungsbedürftiger und betreuender Person stehen in der Abgeschiedenheit des Privathaushalts notwendigerweise an der Tagesordnung, womit sich der Privathaushalt nicht als würdevoller Arbeits- und Betreuungsort eignet. Um nicht mehr die Hilfsknechte der rassistischen Spaltung der Arbeiter*innenklasse zu sein, müssen die Arbeiter*inneninstutionen die Kämpfe der Arbeiter*innen auch jenseits des österreichischen Nationalstaats zu den eigenen machen. Die 24-h-Betreuung zeigt einmal mehr, dass Arbeitskämpfe immer solidarisch und international geführt werden müssen, sodass die Absicherung der einen nicht die Ausbeutung der anderen darstellt. Ein entsprechender Ausbau der Langzeitpflege muss in jedem Fall so gestaltet sein, dass jene, die diese seit Jahren ausführen, nicht wieder an den Rand gedrängt werden (weil z.B. bei besseren Arbeitsbedingungen andere bevorzugt werden), sondern ein Recht auf ihre Arbeitsplätze haben. Eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung muss diese unterschiedlichen Dynamiken im Auge behalten und gegen die (internationale) Spaltung der Arbeiter*innenklasse ankämpfen, indem sie die Selbstorganisierung unterstützt und mit dem Kampf für eine ausbeutungsfreie Langzeitpflege aller verbindet.