
Es gibt Marionettenregierungen, und dann gibt es Abdelaziz Bouteflika. Der algerische Präsident kann seit einem Schlaganfall 2014 nicht mehr sprechen und ist ein offensichtlich machtloses Feigenblatt der herrschenden algerischen Eliten. Trotzdem wurde er am 22. Februar für eine fünfte Amtszeit aufgestellt. Dieser Tropfen hat das Fass in Algerien zum Überlaufen gebracht: Seitdem gehen Millionen auf die Straßen. Sie kämpfen gegen weit mehr als die mittlerweile zurückgezogene Kandidatur, nämlich gegen extrem ungleich verteilten Reichtum und eine kaum versteckte Diktatur von MilliardärInnen, ManagerInnen und Militärs.
Charakter, Erfolg und Aufgaben der Bewegung
Die bisherigen Erfolge der algerischen Bewegung unterstreichen die zentrale Rolle der ArbeiterInnen und Jugendlichen in sozialen und politischen Kämpfen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre, sie hatte die Massendemonstrationen dominiert. Und obwohl Teile der Gewerkschaften der herrschenden nationalen Befreiungsfront FLN die Treue halten, wurde Bouteflikas Kandidatur genau am 11. März zurückgezogen, nachdem die Kampagne für einen Generalstreik immer mehr Fahrt aufnahm. Dafür wurden die Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben, was die Bewegung weiter anstachelt.
Auch die Veteran*innen der algerischen Befreiungsbewegung in den 1960er-Jahren mobilisieren gegen die herrschende Ein-Parteien-Ordnung, die den Namen der antikolonialen Kämpfer*innen FLN für sich beansprucht.
Aber auch Teile der Kapitalist*innen und des Staatsapparats haben sich von ihrer ehemaligen Marionette distanziert. Kleine Gewerbetreibende nahmen am Generalstreik am 22. März teil und der Armeechef verkündete, das Militär würde auf der Seite der protestierenden Bevölkerung stehen. Das ist natürlich unrichtig – die Freitagsdemonstrationen richten sich gegen das ganze herrschende System aus OligarchInnen, Ölmanager*innen und Staatsapparat. Es zeigt aber, wie viel Angst die Generalstreikforderung und die anhaltende Massenmobilisierung den Herrschenden einjagt.
Die Bewegung in Algerien ist ein Massenaufstand gegen ein System das exemplarisch für den kapitalistischen Neokolonialismus steht. Trotz der Weigerung der Gewerkschaften und dem Unvermögen der Linken, die Bewegung anzuführen, treiben Jugendliche, Arbeiter*innen, Arme und ärmere Kleinbürger*innen den Kampf voran. Mit ihren weitestgehend friedlichen Massendemonstrationen haben sie bereits strategische Niederlagen des Regimes erkämpft.
Gleichzeitig fehlt eine Organisierung, die mehr als die Überwindung der himmelschreiendsten Ungerechtigkeiten bringen kann. Die Gefahr besteht, dass die Bewegung, wie in Ägypten, Tunesien und Libyen, in einem konterrevolutionären Rückschlag vernichtet wird. Aber selbst wenn das nicht eintritt wird auch die Einführung einer formaleren bürgerlichen Demokratie die Grundprobleme der Bevölkerung nicht lösen. Für eine darüber hinausgehende Perspektive, in der die Macht und der relative Reichtum im Land in den Händen der Arbeiter*innen liegt, fehlt aber die Organisation um sie umzusetzen. So eine Organisation zu schaffen und den Aufstand nicht versanden zu lassen, ist heute die wichtigste Aufgabe.
Die FLN
Die heute herrschende FLN (nationale Befreiungsfront) führte den Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich an, der 1962 gewonnen wurde. Davor begingen die Besatzer*innen, vor allem seit dem Erstarken der Bewegung ab 1945, brutale Massaker mit insgesamt Hunderttausenden oder sogar mehr als einer Million Toten. Folter, Massenhinrichtungen und das Zerstören ganzer Dörfer gehörten zur französischen Strategie. Der Sieg gegen die Unterdrücker*innen war ein zentraler antiimperialistischer Erfolg des 20. Jahrhunderts.
Gleichzeitig etablierte sich der algerische bürgerliche Nationalismus als neue Herrschaft. Die heldenhaft und aufopfernd kämpfenden der algerischen Arbeiter*innen und Armen fanden sich in einem nationalen Kompromiss und in einer bürgerlichen Herrschaft wieder. Die Rolle der Guerilla wurde hervorgehoben, die Arbeits- und Straßenkämpfe heruntergespielt.
Dabei hatten sie eine zentrale Rolle gespielt: Ab Mitte der 1950er-Jahre erschütterten eintägige Streiks die algerische Kolonie und das französische Festland. 1955 besetzten Soldaten, die nicht gegen die algerische Bewegung eingesetzt werden wollten, ihre Kaserne. Als die Polizei vorrückte schlossen sich mehrere Tausend Arbeiter*innen den Straßenkämpfen an. In Algerien waren es vor allem Hafenarbeiter*innen, deren Kämpfe bis hin zu einem gemeinsamen Generalstreik mit tunesischen Arbeiter*innen 1956 eskalierten.
Leider spielten linke Organisationen nicht immer eine rühmliche Rolle. Es waren französische Sozialdemokrat*innen unter Mollet die den terroristischen Ausnahmeberechtigungsakt, der Folter und Erschießungen zur Folge hatte, durchsetzten. Die französische kommunistische PCF und die UdSSR unter Chruschtschow kooperierten mit De Gaulle in seinem verlogenen „Selbstbestimmungsprozess“ ab 1959, dem noch 3 Jahre brutaler Krieg folgten. Die Vierte Internationale unter Michel Pablo verharmloste derweil die bürgerlich-nationalistische FLN-Regierung unter Ben Bella, der Pablo sogar als Minister beitrat, statt eine unabhängige Organisation der Arbeiter*innen aufzubauen und die Revolution voranzutreiben.
Nach wenigen Jahren Unabhängigkeit gelang es der FLN-Fraktion um Boumedienne und der nationalen Volksarmee ANP 1965, die Macht in einem Putsch an sich zu reißen. Auf den Putsch folgte ein Ein-Parteien-Regime, ein korruptes Netz aus Staatsapparat, Ölbranche und Militär.
Ab den 1980er-Jahren zeigte der FLN-Nationalismus sein grausames Gesicht, als der Widerstand der Berber-Bevölkerung gegen die Unterdrückung ihrer nationalen Identität brutal unterdrückt wurde. Ihnen wurden alle kulturellen Veranstaltungen untersagt, der anti-Berber-Chauvinismus wurde zur ideologischen Stütze des Regimes.
1988 kam es zu einem Aufstand gegen die FLN, die unter dem Druck der Proteste 1988 Wahlen für 1991 ansetzte. Als sich ein Sieg der islamistischen „Islamischen Heilsfront“ FIS abzeichnete, wurden die Wahlen abgebrochen. Es kam zu einem blutigen Bürger*innenkrieg zwischen FLN und FIS, in dem mehr als hunderttausend Menschen starben. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die FLN selbst ab 1976 versuchte, den Islam in der Verfassung zu verankern und damit die islamistische Kanalisierung der Unzufriedenheit quasi vorprogrammierte.
Es war der heutige Marionettenpräsident Bouteflika, 1999 vom Militär eingesetzt, der einen Versöhnungsprozess anstieß und die FLN-Herrschaft stabilisierte. Ab 2002 führte er umfassende Privatisierungen durch. Damit zerschlug er die Illusionen, die auch manche Linke in den angeblichen „Arbeiter*innenstaat“ Algerien hatten, die auf nichts mehr als ein paar Zugeständnissen an besonders gut organisierte Fabrikarbeiter*innen und eine staatliche Industriepolitik basierten. Nach ökonomischer oder demokratischer Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse konnte unter dem FLN lange gesucht werden.
Massive Ungleichheit
In Algerien besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung 80 % des Vermögens. Zum Vergleich: In Österreich, nicht gerade einem Vorreiterland was Vermögensverteilung angeht, sind es etwas über 50 %. Vor allem die Renten aus dem Öl- und Gasgeschäft, das etwas weniger als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, gehen an die mit der FLN verbundenen Eliten. Die Arbeitslosenrate liegt bei etwa 6 %, bei Jugendlichen fast 24 %.
Die Unzufriedenheit nimmt derweil nicht ab. Seit dem Beginn der Proteste waren Schätzungen zufolge 10-15 Millionen auf der Straße. In Algerien leben etwa 41 Millionen Menschen. Seit mehreren Wochen gibt es umfassende Bildungsstreiks, die Generalstreikwelle konnte ursprünglich mehrere Hunderttausende mobilisieren. Auch Arbeiter*innen der besonders privilegierten und besonders von Repression betroffenen Ölindustrie legten die Arbeit nieder. Trotzdem dürfte die Streikbewegung abschwellen, nicht zuletzt weil die Gewerkschaftsbewegung ihre teilweise Loyalität zur FLN nicht abgelegt hat.
Die Erfolge auf denen eine algerische Revolution aufbauen könnte sind ebenso offensichtlich wie ihre Hindernisse. Die Arbeiter*innenklasse hat ihre Macht bewiesen, und dürfte sich ihrer auch bewusst werden. Sie muss sie jetzt in Organisationsformen unabhängig vom Regime gießen, und die Gewerkschaften auf einen radikalen Oppositionskurs zwingen. Eine Partei, die den Aufstand in die Revolution übergehen lässt, kann Arbeiter*innen, Jugendliche und arme Bäuerinnen und Bauern vereinen und die Macht erobern.
Gleichzeitig werden in Algerien die Lehren der permanenten Revolution offensichtlich, die Leo Trotzki als erster systematisch ausformuliert hat. Im Widerspruch zwischen entwickelten kapitalistischen Klassenverhältnissen und Machtstrukturen abseits der bürgerlichen Demokratie kann nur die Arbeiter*innenklasse die Aufgaben einer bürgerlich-demokratischen Revolution durchführen. Sie muss sie aber, wenn sie die demokratische Revolution mit der Macht in den Händen vollenden will, zur sozialistischen Revolution weiterführen.
Das bedeutet, dass die Arbeiter*innenklasse selbst demokratische Forderungen – nach Organisationsfreiheit, Gleichheit von Mann und Frau, Selbstbestimmungsrecht nationaler Minderheiten, Abschaffung des Präsidialsystems, der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung – aufstellen muss, um die Masse der Lohnabhängigen, der Bauernschaft, der städtischen und ländlichen Armut zu verbinden. Doch selbst die demokratischste Konstituierende Versammlung wird die Frage nicht lösen, welche Klasse herrscht. Daher müssen Revolutionär*innen für eine Arbeiter*innen- und Bauernregierung kämpfen, die sich auf Räte und bewaffnete Milizen stützt. Der bürgerliche Staatsapparat muss zerschlagen, die einfachen Soldaten für die Revolution und zur Bildung von Soldatenräten gewonnen werden. Eine Arbeiter*innenregierung muss unmittelbar die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen durch ein Notprogramm zur Linderung der Not und sozialen Ungleichheit angehen – dies ist freilich nur möglich durch die Enteignung der Superreichen und großen Unternehmen unter Arbeiter*innenkontrolle und das erstellten eines demokratischen Plans.
Die größte Fallgrube ist hier die Allianz mit den Bürgerlichen und der Eliten, die sich jetzt von Bouteflika abwenden wo seine Niederlage glasklar ist. Sie versuchen mit Wahlverschiebung und ähnlichen Manövern den Aufstand versanden zu lassen.
Der Aufstand in Algerien zeigt: Eine Revolution im 21. Jahrhundert ist möglich. Er ruft aber auch die Fehler des 20. Jahrhunderts, die Kapitulation vor den Bürgerlichen und die Führungskrise der Arbeiter*innenklasse wieder wach. Es muss gelingen, aus den Niederlagen zu lernen und die Möglichkeiten in zukünftige Siege umzuwandeln.