100 Jahre Jännerstreik: Eine verpasste Revolution

Aufmarsch der Arbeiter*innenräte vorm Parlament. Foto: ÖNB

Vor 100 Jahren kam es zu den größten Streiks in der Geschichte Österreichs bis heute. Die Streiks entbrannten im Namen des Friedens, dem Ende der kapitalistischen Versorgungskrise und im Eindruck der jungen Russischen Revolution. Wegen des Fehlens einer revolutionären, führenden Partei war der Aufstand, wie in Deutschland, Ungarn und der zukünftigen Tschechoslowakei, fehlgeschlagen.

Entwicklung der Sozialdemokratie

Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Epoche des Imperialismus und mit ihr auch die rasche Verbürgerlichung der Sozialdemokratie. Wobei die SPÖ in der Zeit ihrer Gründung mit dem Hainfelder Programm 1889 eine durchaus marxistische Partei mit einem marxistischen Programm war, spielten opportunistische und revisionistische Tendenzen eine nicht unbedeutende Rolle. Unter der Führung des „Gründungsvaters“ Victor Adler wurde die österreichische Sozialdemokratie immer mehr eine angepasste parlamentarische Partei, die ihre Forderungen schrittweise an Reformen innerhalb der bürgerlichen Demokratie anpasste und statt der Zerschlagung die Demokratisierung des bürgerlichen Staatsapparats anstrebte. Dieser Prozess vollzog sich, ähnlich wie in den meisten europäischen Ländern, ohne der Herausbildung einer revolutionären Fraktion oder Partei und vollendete sich spätestens mit der patriotischen Unterstützung des eigenen Vaterlands im Ersten Weltkrieges. Die ersten Kriegsjahre brachten eine allgemeine Abnahme von Mitgliedern in der Sozialdemokratie (von 415.000 im Jahr 1913 auf 166.000 im Jahrtausend in 1916), jedoch eine große Zunahme an weiblichen Mitgliedern, die während des Krieges bis zu 42 Prozent des Proletariats bildeten. Erst mit dem offensichtlichen Verrat begann langsam die Herausbildung einer linksradikalen und antimilitaristischen Fraktion. Die Erkenntnis über den neuen Charakter der Partei verlief langsam und auch für die Herausbildung einer offenen Antikriegsstimmung in der Arbeiter*innenschaft bedurfte es der immer tieferen Versorgungs- und Lohnkrise der Kriegsjahre, vor allem nach 1917. Sogar die sozialdemokratische Parteiführung passte sich im Oktober an die pazifistische Linie der gemäßigten Linken an und eröffnete die austromarxistische Phase aus linker Rhetorik und reformistischer Realpolitik.

Der Einfluss der „Linksradikalen“

Für die Entfachung der Streikbewegung entscheidend waren Kürzungen der geringen Brot- und Mehlrationen, aber auch die Friedensbestrebungen der Russischen Revolution und die Rolle der Linksradikalen in der Sozialdemokratie, die den Krieg mit einem Generalstreik beenden wollten. In der Partei konnte sich ein kleiner linker Flügel rund um Friedrich Adler herausbilden, der jedoch keinen Prozess der programmatischen und organisatorischen Zentralisation durchlief. Friedrich Adler selbst vermied offene Auseinandersetzungen, eine potenzielle Spaltung und verfolgte eine pazifitische Politik stattklassenkämpferischen Antimilitarismus. Doch aus den Reihen des „Verbands Jugendlicher Arbeiter“ betrieben Oppositionelle Propaganda gegen den Krieg und organisierten sich eigenständig im „Aktionskomitee der Linksradikalen“, u.a. unter Franz Koritschoner.

Innerhalb des Jahres 1917 kam es bereits zu einigen großen Streikbewegungen, in denen das „Aktionskommitee der Linksradikalen“ Fuß fassen konnte, weil sich die sozialdemokratischen Organe immer mehr in Organe der Klassenkollaboration umwandelten hatten und für ungestörte (Kriegs-)Produktion sorgten. Auf Initiative der Linksradikalen fand im September 1917 eine Konferenz in St. Egyden zwischen Vertrauensmänner vieler wichtiger Betriebe statt, die sich für das Ende des Krieges aussprach und einen politischen Streik vorbereitete.

Der Jännerstreik

Ab dem 22. Dezember 1917 begannen die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zwischen dem jungen Sowjetstaat und den Mittelmächten. Nachdem Deutschland Annexionen forderte und sich weigerte, seine Armee abzuziehen, kam es zu genereller Empörung in der Arbeiter*innenklasse. Der Streik wurde deshalb vorgezogen und sollte am 14. Jänner in Wiener Neustadt beginnen. Dort begann er mit einer illegalen Betriebsversammlung im Daimler-Werk und setzte sich mit einem Zug auf den Hauptplatz fort, wonach sich weitere Fabriken im Wiener Becken dem Streik anschlossen. Am bedeutendsten waren wohl die 40.000 Arbeiter*innen der Wöllersdorfer Munitionsfabrik. Am selben Tag wurden von den jeweiligen Betrieben Vertreter*innen für einen Arbeiter*innenrat gewählt, der als Ersatz für die fehlende Unterstützung der Gewerkschaften und der Partei agieren sollte, wohl aber auch von den Linksradikalen vorangetrieben wurde. Zwei ihrer Mitglieder gehörten sogar der Leitung des Rats an. Am selben Tag breitete sich der Streik noch weiter aus und am nächsten Tag, dem 15. Jänner , reagierte die Partei auf den Streik anpassend und mit der Absicht die Kontrolle über ihn zu erlangen und ihn zu beenden. Am darauffolgenden Tag breitete sich der Streik auf Wien aus, wo 84.000 Arbeiter*innen im Ausstand waren. Am 17. Jänner erstellte der Parteivorstand einen 4-Punkte Katalog, der in die Arbeiter*innenräte einzubringen sei um die Massen zu beruhigen und den Streik beenden zu können. Die Forderungen waren 1. kein Scheitern der Friedensverhandlungen wegen territorialer Forderungen der Regierung, 2. eine bessere Versorgungssituation, 3. eine Demokratisierung des Gemeindewahlrechts und 4. Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Die Linksradikalen veröffentlichten daraufhin ein eigenes 4-Punkte Programm, das eindeutig über die Forderungen der Partei hinausging (sofortiger Waffenstillstand, Wahl der Friedensdelegierten durch das Volk), Misstrauen gegenüber den „patriotischen Arbeiterführern“ äußerte und sich eindeutig auf die Seite der bolschewistischen Delegation in Brest-Litowsk stellte. Der Streik breitete sich mittlerweile in Ungarn und Tschechien aus und betrug schon zwischen 550.000 und einer Million Teilnehmer*innen. Die Sozialdemokratie bemühte sich inzwischen von der Regierung größte rhetorische Zugeständnisse einzuholen und im Arbeiter*innenrat einen Beschluss für die Wiederaufnhame der Arbeit zu erlangen. Auf der Versammlung im Arbeiter*innenheim Margareten wurde schließlich dieser Beschluss mit großer Mehrheit erreicht. Der Streik dauerte zwar in vielen Fabriken noch bis zum 23. Jänner an, konnte aber nicht gegen die Sozialdemokratische Partei wiederbelebt werden. Die Arbeiter*innenräte wurden in weiterer Folge der Sozialdemokratie untergeordnet. Die Statuten wurden dahingehend geändert, dass man für eine Mitgliedschaf im Arbeiter*innenrat mindestens sechs Monate Mitglied in der Partei sein musste. Außerdem sollte er kein ständiges Gremium sein, sondern nur bei Streiks und anderen betrieblichen Protesten einberufen werden. Damit war der Arbeiter*innenrat nicht mehr ein unabhängiges, politisches Machtorgan der Arbeiter*innenklasse, sondern ein Instrument zur bürokratischen Kontrolle von Streikbewegungen.

Die Lehren der Bewegung

Die konterrevolutionäre Rolle der Sozialdemokratie zeigte sich deutlich an der Sabotage dieser größten Streikbewegung Österreichs. Sie zeigte sich noch klarer in der Zwischenkriegszeit, wo sie Koalitionsregierungen mit den Christlich-Sozialen einging und später das Proletariat im Kampf gegen die Dollfuß-Diktatur lähmte.

Eine zentrale Lehre dieser mächtigen Streikbewegung ist eine über die Räte. Wie sich an diesem Beispiel gut zeigt sind die Räte keineswegs spontan vollständig revolutionäre Instrumente. Sie sind Organe der Doppelmacht dahingehend, dass sie die Macht der Arbeiter*innenklasse gegen den kapitalistischen Staat durchsetzen. Aber die proletarische Machtergreifung, mit der die Doppelmacht aufgehoben und die Staatsmacht selbst in die Hände der Räte fällt, bleibt ein bewusster revolutionärer Akt. Ist die Arbeiter*innenklasse und ihre Führung trotz den Räten zu diesem Schritt nicht bereit, dann werden auch die Räte nicht von langfristigem Bestand sein können. Die Räte selbst müssen also für ein Programm, das die aktuellen Kämpfe der Klasse mit der revolutionären Machteroberung verknüpft, gewonnen werden. Die Sozialdemokratie lehnte ein solches Programm strikt ab und die Linksradikalen waren zur Zeit des Jännerstreiks noch zu schwach um die Dominanz der sozialdemokratischen Parteiführung über die Streikbewegung zu brechen. Zwar waren sie mit der Gründung der Kommunistischen Partei im November 1918 eine der ersten kommunistischen Parteien außerhalb Sowjetrusslands, doch selbst dann wurden sie aufgrund mangelnder Erfahrung und ultralinker Fehler keine ernsthafte Konkurrenz für die Sozialdemokratie.

Die Erfahrung des Jännerstreiks von 1918 zeigt uns bis heute die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die verhindern kann, dass eine verräterische Partei die Führung über eine radikalisierte Massen- bzw. Rätebewegungen übernimmt und sie ins Nichts treibt. Wartet man mit dem Aufbau einer solchen Partei bis die Massen sich selbst bewegen, dann wird es zu spät sein.