Am 25. März feierte die Europäische Union den sechzigsten Geburtstag der Römischen Verträge, also der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Mit der darin begründeten Zollunion wurde der Grundstein der heutigen EU gelegt. Überschattet wurde die Inszenierung vom BREXIT, der nur wenige Tage später formal beantragt werden sollte. Dementsprechend bemühte man sich um demonstrative Einigkeit, eine positive Bilanz der gemeinsamen Geschichte und um eine optimistische Haltung. Tatsächlich ist den meisten aber klar, dass die EU am Scheideweg steht und sich etwas ändern muss, wenn man in der Lage sein will „eine entscheidende Rolle in der Welt zu spielen“.
Die politische und ökonomische Krise in Europa hat die Union tief erschüttert und in ihrer bestehenden Form in den Augen der meisten führenden Politiker*innen delegitimiert. Die Weltwirtschaftskrise hat den ganzen Kontinent hart getroffen, insbesondere die südeuropäischen Länder. Daraus folgten eine Bankenkrise, eine Staatsschuldenkrise, eine von den Finanzmärkten diktierte Austeritätspolitik und schließlich eine politische Krise des gesamten Projekts. Die sogenannte Krise im Umgang mit den steigenden Geflüchtetenzahlen führte hier zu einer weiteren Verschärfung, als Politiker*innen aller Richtungen verstärkt auf nationalistische „Lösungen“ setzten. Am Höhepunkt der reaktionären Eskapaden steht nun der BREXIT und das Zurückgreifen auf den Nationalismus durch konservative, liberale und sozialdemokratische Kräfte in vielen Ländern. Die Folge ist der Katzenjammer aber noch lange nicht Ernüchterung.
„Sprung ins Ungewisse“
Neun Monate nach dem Votum und 44 Jahre nach dem Beitritt ist der Beschluss zum EU-Austritt Großbritanniens offiziell. Der eingeleitete Austrittsprozess ist ein herber Rückschlag für die EU, nicht weil Großbritannien den „Integrationsprozess“ so bestärkt hätte oder weil soviel Nettozahlungen verloren gehen werden, sondern vor allem weil er Abspaltungstendenzen in anderen Ländern bestärken könnte. Deshalb kann die EU keine großen Zugeständnisse in den kommenden Verhandlungen machen. Die EU-Kommission spricht ihre Befürchtungen und damit die Befürchtungen der herrschenden Klassen Europas im sogenannten „White Paper on the Future of Europe“ klar aus: Die Spaltung und Zerstückelung „würde europäische Länder und Bürger den Geistern ihrer gespaltenen Vergangenheit aussetzen und sie zur Beute der Interessen stärkerer Mächte machen“. Wir können daher zähe und harte Verhandlungen in den kommenden zwei Jahren erwarten, bei denen die britische Kapitalist*innenklasse wahrscheinlich den Kürzeren ziehen wird. Dass diese die Arbeiter*innen auf der Insel dafür zahlen lassen möchten, steht auf einem anderen Blatt.
Umgekehrt werden sich die beiden imperialistischen Kernländern Frankreich und Deutschland nicht die Chance entgehen lassen, die sich mit dem Austritt der Briten bietet: Großbritannien hat den politischen Vereinigungsprozess, für den die „Achse Berlin-Paris“ steht, in der Vergangenheit wiederholt gebremst, beispielsweise in Fragen der europäischen Verteidigung. Auch die EU-Bürokratie erhofft sich wohl einfachere Verhandlungen für eine vertiefte Union, wenn britische Sonderwünsche entfallen. Somit ist es wohl auch kein Zufall, dass die Jubiläumsfeier in Rom als Startschuss für eine Neuausrichtung der Europäischen Union gewählt wurde. Schon im Vorfeld hat die Europäische Kommission dazu ihr „Whitepaper“ präsentiert um einen Diskussionsprozess über die weitere Zukunft in Gang zu setzen.
Imperialistische Ambitionen
Die „Lissabon-Strategie“ der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 sah vor, die EU bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Im Erreichen dieses Ziels ist die EU klar gescheitert. Und dabei bleibt es nicht. Die Kommission stellt besorgt fest, dass Europas Bedeutung in der Welt schrumpft: Um das Jahr 1900 stellte die europäische Bevölkerung noch ¼ der Weltbevölkerung, im Jahr 2060 werden weniger als 5 % vorhergesagt. Der Anteil am „weltweiten Bruttosozialprodukt“ liegt heute bei etwa 22 %, im Jahr 2030 wird es zugunsten aufstrebender Ökonomien wie China unter 20 % fallen. Zunehmende Militarisierung, internationale Spannungen und Terrorismus stellen auch den europäischen Militarismus vor größere Herausforderungen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bringt den Angelpunkt, um den sich die kommende Debatte drehen soll, im Vorwort des „Whitepapers“ folgendermaßen auf den Punkt: „Aber Rom muss auch der Start eines neuen Kapitels sein. Vor uns liegen wichtige Herausforderungen, für unsere Sicherheit, für den Wohlstand unserer Völker, für die Rolle die Europa in einer zunehmend multipolaren Welt spielen wird müssen.“
Es ist nicht schwierig all diese Aussagen in unverblümte Sprache zu übersetzen. Die Europäische Union ist ein Bündnis kapitalistischer Staaten, das wegen der nationalstaatlichen Zersplitterung seine Position in der globalen Ordnung einbüßen könnte. Während andere Mächte wie die USA oder China mit einem Zentralstaat und einem starken Militärapparat eingreifen können bzw. könnten, fehlt der Union die Möglichkeit eines solchen entschiedenen Vorgehens. Vor diesem Hintergrund muss man auch die neu aufgekommene Debatte über eine EU-Armee bzw. eine europäische „Verteidigungsunion“ bewerten. Möchte das Großkapital Europas seine Stellung am Weltmarkt behalten und möchten ihre abhängigen Kapitale und politischen Handlanger*innen davon profitieren, dann müssen die nationalstaatlichen Spaltungen weiter überwunden und Ressourcen gebündelt werden. Das ist aber nicht so einfach, denn die Kapitalist*innenklasse Europas ist keineswegs einfach nur „europäisch“.
Das ist das große Dilemma Europas in der sogenannten imperialistischen Epoche des Kapitalismus. Die einzelnen nationalen Kapitale sind über die nationalstaatlichen Grenzen hinausgewachsen, sie müssen sich ausbreiten, in Europa und über Europa hinaus. Die Nationalstaaten müssen aber auch ihre Kräfte bündeln und zusammenarbeiten wenn sie nicht hinter andere Großmächte zurückfallen möchten. Deshalb der gemeinsame Binnenmarkt und deshalb auch die politische Föderation. Gleichzeitig bedeutet der sogenannte Integrationsprozess aber auch eine verschärfte Konkurrenz zwischen den monopolistischen Konzernen und eine Entmachtung der alten Nationalsaaten. Das macht diesen Prozess so widersprüchlich und schwierig und potentiell unterdrückerisch.
Fünf Wege in die Zukunft
Die EU-Kommission nennt fünf verschiedene Szenarien als mögliche Auswege aus der Krise. Die Szenarien werden neutral nebeneinander gestellt, können in der Praxis aber miteinander kombiniert werden. Dabei ist es aber klar, dass für die EU-Bürokratie und für die verschiedenen Länder nicht alle Optionen gleichermaßen in Frage kommen.
- „Weitermachen“: Die EU fährt mit ihrer Reformagenda auf bestehender Grundlage fort um die Zusammenarbeit in ausgewählten Bereichen zu intensivieren. – Das erscheint sehr unrealistisch, weil es die heutigen Probleme der EU unbeantwortet lässt, die von allen Beteiligten anerkannt werden.
- „Nur der eine Markt“: Der Daseinszweck der EU wird wieder verstärkt auf den gemeinsamen Markt reduziert. Andere Bereiche werden nach hinten gereiht, wenn sich die Mitgliedsstaaten nicht einigen können. Das erscheint ebenfalls unrealistisch, da es der Kapitulation in der „multipolaren Welt“ gleichkommt.
- „Jene die mehr wollen machen mehr“: Einzelne Mitgliedsstaaten vertiefen die Zusammenarbeit auf gewissen Ebenen ohne die ganze EU miteinzubeziehen. Eine oder mehrere „Koalitionen der Willigen“ entstehen.
- „Weniger effizienter machen“: Die EU konzentriert sich auf Prioritäten, andere Tätigkeiten werden eingestellt oder auf Sparflamme gefahren.
- „Viel mehr gemeinsam machen“: Die EU bekommt mehr Entscheidungskompetenz, Ressourcen und Entscheidungen werden schneller getroffen um Herausforderungen zu bewältigen. Diese Option mag für Teile der EU-Bürokratie verlockend klingen, ist aber angesichts nationalstaatlicher Uneinigkeiten und Vorbehalte ebenfalls unwahrscheinlich.
„Jene die mehr wollen machen mehr“ und „Weniger effizienter machen“ scheinen die beiden wahrscheinlichsten Szenarien zu sein. Dabei ist es gut möglich, dass es zu einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ als Kombination der beiden Szenarien kommt. Immerhin wurde so etwas auch schon vor den Jubiläumsfeierlichkeiten von Angela Merkel propagiert. In der Vertiefung der Wirtschafts- und Steuerpolitik steht sie dabei gemeinsam mit Belgien, Luxemburg und Frankreich. Es wurde auch schon öfter argumentiert, dass ein solches Europa mit dem Euro und dem Schengenraum eigentlich schon heute existiere. Anfang März traf sie sich sogar mit dem franzöischen Präsidenten Hollande, dem Regierungschef Italiens Gentiloni und Spaniens Rajoy zu einem Vierer-Gipfel im Schloss Versaille, um über die Zukunft der EU zu beraten. Hollande kommentierte das bezeichnender Weise so: „Es ist an uns zu sagen, was wir gemeinsam mit anderen tun wollen.“
Ein Szenario für die Arbeiter*innenklasse
Die breite Mehrheit Europas aus der Jugend, den Arbeitslosen und den Arbeitenden, muss eine Alternative zu einem Europa des Kapitals haben, auf das alle Szenarien der EU-Bürokratie hinauslaufen. Unterstützt sie die Großmachtambitionen der europäischen Kapitalist*innen, dann tut sie das auf dem Rücken der arbeitenden Klassen aller anderen Länder und wird in eine Sackgasse aus Krise, Abschottung und Krieg schlittern. Ihre Alternative kann aber keinesfalls der Weg eines BREXIT sein. Dieser Weg ist nichts anderes als der Rückkehrversuch zum kapitalistischen Nationalstaat, eine Sackgasse die ebenso zu Krise, Abschottung und Krieg führt. Die Arbeiter*innen Europas haben auf jeden Fall über die bestehenden Ländergrenzen hinweg mehr gemeinsame Interessen als mit den Herrschenden „ihrer“ Nation.
Für die breite Mehrheit Europas gibt es nur einen Ausweg aus der imperialistischen Krise: Das Bündnis mit der europäischen Arbeiter*innenklasse und der Klassenkampf auf internationaler Ebene. Dazu ist der Zusammenhalt und die Solidarität einer starken internationalistischen Arbeiter*innenbewegung nötig. Der gemeinsame Abwehrkampf gegen Militarisierung, gegen Austeritätspolitik oder gegen die Festung Europa können ein Anknüpfungspunkt für eine solche Bewegung sein. Der gemeinsame Kampf für eine Angleichung der Arbeitsbedigungen und der Sozialgesetzgebungen (nach oben) kann die nationalistischen Spaltungen in der Arbeiter*innenklasse überwinden und ein europäisches Klassenbewusstsein entwickeln.
Die sozialdemokratischen Parteien, die Gewerkschaftsführungen aber auch die neuen Linksparteien haben eine solche internationalistische Strategie verworfen und die Bündnisse mit ihren eigenen nationalen Kapitalist*innen gesucht. Sie haben die Arbeiter*innen zu Spaltung, Missgunst und Perspektivlosigkeitlosgkeit getrieben. Es ist höchste Zeit für eine fortschrittliche politische Alternative, eine Partei die sich auf einen klaren Klassenstandpunkt stellt und die Arbeiter*innen zu Solidarität und Fortschritt durch Vertrauen in die eigene Stärke ermutigt.