Linke Debatte um das Gesundheitswesen und die Auswirkungen kapitalistischer Vewertung ist notwendig und brandaktuell, gerade in einer Zeit anhaltender Krisenhaftigkeit. Deshalb ist es auch erfreulich, dass 2013 das Buch „Gesundheit für alle!“ in der Reihe „kritik & utopie“ im Mandelbaum Verlag als Einführung erschienen ist. So heißt es am Rücken des Buches: „Das INTRO stellt die Grundlinien des Gesundheitswesens in Deutschland und Österreich dar und beschreibt die Folgen der Privatisierung und Kommerzialisierung. Es zeigt aber auch, wie Menschen sich dagegen wehren: von Streiks in Deutschland bis zu Krankenhausbesetzungen in Griechenland.“ Damit ist die grobe Linie des Inhalts gut zusammengefasst, die dann von 14 verschiedenen Autorinnen und Autoren in 16 themenspezifischen Textbeiträgen ausgebreitet wird.
Zu Beginn versucht Werner Rätz mit einigen Gesundheitsmythen aufzuräumen, die die wahren Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Gesellschaft ideologisch verschleiern. Er greift die Vorstellung im Denksystem des Kapitalismus an, in welcher Patient*innen als souveräne Verbraucher*innen zwischen angebotenen Leistungen an einem Gesundheitsmarkt entscheiden sollten. Er kritisiert vorherrschende Auffassung von Gesundheit als Eigenverantwortung und rückt das Thema ins Licht sozialer Verhältnisse, insbesondere werden Arbeit und Armut als wichtigste krankmachende Faktoren beschrieben. Außerdem hinterfragt er gewisse Argumente zur voranschreitenden „Rationalisierung“ im Gesundheitswesen wie beispielsweise die Darstellung, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen steigender Lebenserwartung und steigenden Kosten gäbe oder, dass wir uns die angeblich steigenden Ausgaben für unsere Gesundheitsversorgung nicht mehr leisten könnten.
Andreas Exner versucht in einem Kapitel den Zusammenhang von Gesundheit und sozialer Ungleichheit zu beschreiben. Nach seiner These ist absolute Armut – zumindest im globalen Norden – nicht der relevante Faktor für den allgemeinen Gesundheitszustand, sondern die soziale Ungleichheit. Das Risiko zu erkranken ist zwar auch bedingt durch individuelle Lebensführung und genetische Unterschiede, folgt allerdings der Stufenleiter sozialer Hierarchien. Beispielsweise hängt Rauchen mit der Schwierigkeit aufzuhören zusammen, welche wiederum bei schlechter gestellten Menschen größer ist. Die Befriedigung der Entzugserscheinungen schafft künstliche Entspannung für schlechter gestellte Gruppen, die verstärkt unter chronischem Stress leiden.
Im Text von Bernhard Winter werfen wir einen Blick in die düstere Welt der Pharmakonzerne. Im Kapitalismus nehmen auch Medikamente die Form von Waren an, die zur Gewinnerzielung erzeugt und verkauft werden. Laut Winter ist die Pharmakotherapie heute die alles dominierende Therapieform, die sich auf einem Krankheitsbegriff gründet, der soziale und umweltbezogene Faktoren weitgehend ausblendet und diesen stattdessen auf Organpathologie reduziert. Durch Patentschutz wird versucht möglichst viel Geld aus dem Medikamentenverkauf zu schlagen, mit enormen Einsatz von Werbemitteln werden etablierte Medikamente mit hohem Umsatz vermarktet, während Forschung für den eigentlichen Bedarf leidet.
In weiterer Folge erklärt das Buch die Strukturen des deutschen und des österreichischen Gesundheitswesens. So erfährt man auch über die Einsparungen bei unserer Sozialversicherung, von Outsourcing und Public-Private-Partnership in Österreich und der beängstigend fortgeschrittenen Privatisierung in Deutschland. Auch die Bereiche Geburtshilfe und Psychiatrie werden in einem eigenen Kapitel behandelt. Anna Leder, eine basisgewerkschaftliche Aktivistin berichtet von beeindruckenden Arbeitskämpfen in Griechenland und Polen mit Besetzungen, Kontrolle der Beschäftigten und Selbstverwaltung.
Der oben genannte Andreas Exner bewirbt zum Abschluss ein Konzept von „solidarischer Ökonomie“ zur Verwirklichung der Gesundheit für alle. Dabei geht es durchaus um soziale Umverteilungskämpfe im Produktions- und Reproduktionsbereich. Die Klassenspaltung in Lohnarbeiter*innen und Eigentümer*innen von Produktionsmitteln soll in einer solchen Wirtschaft aufgehoben werden. Dieser Ansatz ist durchaus sympathisch, war dieses Vorhaben bisher immerhin das Ziel der sozialistischen bzw. kommunistischen Arbeiter*innenbewegung gewesen. Die unterdrückte Klasse der Lohnabhängigen, das heißt die Arbeiter*innenklasse, muss in einer Revolution die politische Macht ergreifen und die Produktionsverhältnisse zum Aufbau einer demokratisch geplanten Wirtschaft umgestalten. Exner schwebt als politischer Weg mehr der Aufbau von Kooperation und die Durchsetzung von Autonomie vor. Wie soziale Umverteilung und die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln allerdings letztlich ohne die organisierte Ausübung proletarischer (Staats-)Macht funktionieren soll bleibt unbeantwortet und die solidarische Ökonomie nichts weiter als eine neu verpackte kleinbürgerliche Utopie.
Trotz dieser letztlichen politischen Verwirrung ist „Gesundheit für alle!“ ein wichtiges Buch zum Einstieg in aktuelle Gesundheitsthemen aus linker Perspektive. In diesem Sinne können wir es allen Aktivist*innen, Gewerkschafter*innen und Beschäftigten aus dem Gesundheitsbereich ans Herz legen!