Kaum eine aktuelle Entwicklung im globalen Gefüge erregt in der westlichen Welt derzeit so viel Aufmerksamkeit wie der Vormarsch des „Islamischen Staats“ (IS). Seitdem die islamistisch-salafistische Miliz im Juni 2014 die irakische Stadt Mossul erobert hat, ist allen voran die USA im Aufruhr. Die Vertreibung religiöser Minderheiten hat die Weltöffentlichkeit erregt und die kurdische Community steht auf um Unterstützung in der Verteidigung der kurdischen Selbstverwaltungsgebiete gegen IS einzufordern. Gleichzeitig zeichnen Regierungen und Medien im imperialistischen Westen das Schreckgespenst einer neuen Terrorwelle in den imperialistischen Metropolen, nationalistische Kräfte nutzen die Gunst der Stunde um die geschürte Angst in Rassismus gegenüber Moslems zu kanalisieren und die herrschende Elite hat wieder einen Vorwand gefunden um den staatlichen Repressionsapparat auszubauen. Es zeigt sich deutlich, dass die Entwicklungen rund um diese Organisation und ihr ausgerufenes „Kalifat“ für das zukünftige Kräfteverhältnis im Nahen Osten und darüber hinaus entscheidend ist. Das alles ist Grund genug um einen genaueren Blick auf IS zu werfen und das Phänomen zu untersuchen und letztendlich in eine Klassenanalyse einzubetten.
Ursprünge und Ideologie
Wer die Ursachen für IS begreifen will, kann das nicht ohne die Gruppe als Produkt zweier Faktoren zu sehen: Irak-Krieg 2003 und syrischer Bürgerkrieg. Somit ist es auch kein Zufall, dass seine historische Vorgängerin, die Gruppe „Gemeinschaft für Tauhid und Dschihad“ (Tauhid ist der Glaube an die Einheit Gottes, d.h. Monotheismus), im irakischen Widerstand gegen die US-geführte Besatzung in Erscheinung trat und heranwuchs. Sie wurde ursprünglich 1999 vom jordanischen Salafisten Abu Musab al-Zarqawi gegründet mit dem Ziel das – in seinen Augen – unislamische Königreich Jordanien zu stürzen. Im Irak konnte er im Zuge der US-Invasion die Gruppe stärken und ein Netzwerk aufbauen. Im Oktober 2004 schwor Zarqawi al-Quaida die Gefolgschaft. Von da an nannte sich die Vereinigung „Organisation der Basis des Dschihad im Zweistromland“, bekannter unter dem Namen al-Qaida im Irak (AQI). Zu den Aktivitäten der Organisation gehörten Morde, Entführungen, Erpressungen und Bombenanschläge, durch die sie gezielt auch die schiitische Mehrheitsbevölkerung terrorisierte. Mit einer Reihe anderer dschihadistischer Gruppen wurde Anfang 2006 die Dachorganisation „Mudschaheddin Schura-Rat“ gebildet, die nach dem Tod von al-Zarqawi und einem darauf folgenden Führungswechsel schließlich im Oktober zu „Islamischer Staat im Irak“ (ISI) fusionierte.
Mit dem Namen demonstrierte AQI ihren Anspruch auf unmittelbare Staatlichkeit. Die Gründung eines islamischen, also religiösen, Staates ist das zu Grunde liegende Ziel des Islamismus. Al-Qaida und damit auch ISI ist im breiten Spektrum der fundamentalistischen Ausprägung des Islam eine Strömung des Salafismus, einer ultrakonservativen Auslegung der sunnitischen Glaubensrichtung. Ihre Anhänger*innen orientieren sich an der „unverfälschten“ Frühzeit der Religion und am historischen islamischen Staat Mohammeds aus dem 7. Jahrhundert sowie an der islamischen Expansion nach dessen Tod, also an einer mittelalterlichen Gesellschaftspraxis. Aus diesem Grund ist diese Ideologie nicht einfach konservativ, sondern besonders rückschrittlich.
Ausweitung auf Syrien
Als im März 2011 der Arabische Frühling Syrien erfasste und die brutale Repression durch das Assad-Regime das Land in den Bürgerkrieg stürzte, sendete ISI – mittlerweile geführt von Abu Bakr al-Baghdadi – Mitglieder nach Syrien mit dem Ziel dort eine Organisation aufzubauen. Im Jänner 2012 wurde die al-Nusra-Front als syrischer Ableger von al-Qaida ins Leben gerufen. Die Organisation macht mit Anschlägen auf die syrischen Streitkräfte auf sich aufmerksam, sie unternimmt humanitäre Hilfsaktionen und begeht Übergriffe auch an christlichen und säkularen Oppositionellen.
Im April 2013 erklärte al-Baghdadi die al-Nusra-Front einseitig zu einem Teil seiner Organisation, die nun „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ heißen sollte, womit die zwei Gruppen in seinen Augen fusioniert werden sollten. Der lokale Anführer des syrischen Ablegers Abu Mohammed al-Jawlani wies diese Absichten zurück. Auch al-Qaida-Chef Ayman al-Zawahiri sprach sich dagegen aus, er ordnete al-Baghdadi den Irak als Einflussgebiet zu und al-Jawlani Syrien. Für ISIL/ISIS kam das gleich der Anerkennung der kolonial festgelegten Grenzen zwischen Syrien und Irak und so kam es zum Bruch mit al-Qaida. ISIL setzte seine Aktivitäten in Syrien fort und so gab es sogar einzelne bewaffneten Auseinandersetzungen mit der weiter bestehenden al-Nusra-Front.
Ermächtigung
Nach dem Abzug der US-Truppen aus dem Irak startete ISI eine Welle von Anschlägen auf die schiitische Mehrheitsbevölkerung. Später, Ende 2012 begannen sunnitische Proteste gegen die schiitische Maliki-Regierung. Die Baath-Partei von Saddam Hussein war sunnitisch dominiert gewesen, nun hatten schiitische Kräfte die Führung im Staat übernommen. Vorwürfe der Korruption und der Ausgrenzung von Sunnit*innen brachten Teile der Minderheitsbevölkerung gegen Maliki auf.
Als das Haus und Büro des sunnitischen Finanzministers durchsucht und zahlreiche seiner Leibwächter festgenommen wurden, gingen tausende Menschen in der west-irakischen Stadt Fallujah auf die Straße um den Rücktritt von Regierungschef Maliki zu fordern. In der Hauptstadt der gleichen Provinz al Anbar, Ramadi, wurde die Haupthandelsstraße nach Jordanien und Syrien blockiert und Proteste breiteten sich auf zahlreiche andere Städte des Landes aus. Demonstrationen von regierungskritischen und regierungsfreundlichen Kräften fanden statt, die Lage spitzte sich in den folgenden Monaten zu.
Am 30. Dezember 2013 räumten Sicherheitskräfte der Regierung ein sunnitisches Protestcamp in Ramadi. In weiterer Folge kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit den Einheiten der Regierung und vier Polizeistationen wurden in Flammen gesetzt. Die sunnitische Opposition, die in Protesten gegen die Regierung aktiv war dürfte neben der Mitwirkung von ISIL aus einem Bündnis mehrerer Gruppen unter der Bezeichnung „Militärischer Rat der stämmischen Revolutionäre“, dem „Revolutionären Rat der Anbar Stämme“ unter Scheich Ali Hatem al-Suleiman, sowie der „Armee des Stolzes und der Würde“.
Anfang Jänner drangen Kämpfer von ISIL und sunnitischer Stämme in Ramadi und Fallujah ein und erlangten darüber sowie über einige andere Städte der Provinz die Kontrolle. In den folgenden Monaten hielten Kämpfe mit der irakischen Armee an. Mitte März waren mehr als 380.000 Menschen aus der Region um Fallujah und Ramadi geflohen.
Offensive zum Kalifat
Anfang Juni 2014 startete ISIL eine Offensive auf die zweitgrößte irakische Stadt Mossul. Nach drei Tagen fiel die Stadt in ihre Hände, zwei Tage später Tikrit, wo die Miliz laut eigenen Angaben 1.700 irakische Armeeangehörige exekutierte, nachdem diese sich ergeben hatten. Wenige Tage später übernahmen kurdische Peschmerga die Kontrolle über Kirkuk, nachdem sich die Armee dort aus dem Staub gemacht hatte. Laut der britischen Tageszeitung „The Guardian“ waren etwa 30.000 Soldaten der irakischen Armee desertiert, obwohl ihnen geschätzt nur 800 der Islamisten gegenüber standen, wobei andere Schätzungen von über 1.000 Angreifern ausgehen. So oder so, die Niederlage der zahlenmäßig und militärisch-technisch weit überlegenen Armee gegen den kleinen Feind hat ein großes Fragezeichen geschrieben, so dass selbst Premierminister Maliki eine Verschwörung vermutet. Es gibt Berichte, dass Offiziere einfach ihre Posten verlassen hätten, oder Soldaten zum Rückzug aufgefordert hätten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass baathistischer Einfluss oder unzufriedene sunnitische Elemente in der Armeeführung die Streitkräfte desorganisierten.
Durch die Offensive konnte ISIL neben 429 Mio. Dollar aus der Bank von Mossul einiges an militärischem Gerät inklusive schwerer Waffen erbeuten . Somit konnten die Islamisten den nordwestlichen Teil des Landes unter ihre Kontrolle bringen. Durch diesen Erfolg fühlte sich die Miliz bestärkt ihr deklariertes Ziel in die Tat umzusetzen. Ende Juni rief sie auf den eroberten Gebieten ein Kalifat aus unter Führung al-Baghdadis, von nun als so genannter Kalif Ibrahim. Die Organisation nannte sich ab jetzt nur noch „Islamischer Staat“ (IS).
Terror-Regime
Die Miliz hat also ein Regime auf den kontrollierten Gebieten errichtet, das unter anderem religiöse, juristische und humanitäre Projekte beinhaltet, sowie Programme für Sicherheit, Bildung und Infrastruktur. Am stärksten ausgeprägt ist ihre Herrschaft in der „Haupstadt“ Raqqa. Diese Staatlichkeit birgt einige Vorteile für IS: Hinter der Armee steht somit ein politischer und wirtschaftlicher Apparat, der zur Aufrechterhaltung der militärischen Expansion notwendig ist, er ist eine Hoffnung für manche Menschen im Bürgerkrieg, die sich ein Leben in Ordnung und Sicherheit wünschen, und er ist ein Attraktionspol für Salafist*innen auf der ganzen Welt, die teilweise in das Land kommen um für das Kalifat zu kämpfen.
„Kalif Ibrahim“ ist nicht nur das religiöse Oberhaupt sondern auch der politische Führer in diesem heranwachsenden Staat. Klarerweise bildet die Rechtsgrundlage für das Kalifat die Scharia, das heißt Vorschriften und Regeln für das Leben werden aus religiösen Pflichten abgeleitet, die dem Koran und der Sunna (überlieferte Handlungen und Äußerungen Mohammeds) entnommen sind. Natürlich gibt es auch hier verschiedene Rechtsschulen und Auslegungen, IS gibt sich dabei aber streng orthodox. Das beinhaltet eine rigorose Anwendung von „Hadd“-Strafen, die zur Abschreckung da sind, wie Tötung, Amputation, o.ä.
Für die Provinz Nineveh wurden 16 Regeln veröffentlicht, die einen Einblick in das Leben im „Islamischen Staat“ geben. So sind alle Muslime angehalten ihre Gebete abzuhalten. Wer vom Glauben abfällt, ist mit Tötung bedroht. Wer stiehlt, dem wird die Hand abgehackt, wer erpresst, dem droht Tötung bzw. Kreuzigung. Drogen, inklusive Alkohol und Zigaretten sind verboten. Gräber, Schreine, etc. werden zerstört, auch schiitische Moscheen oder christliche Kirchen wurden zerstört oder zweckentfremdet. Frauen müssen ihr Gesicht verschleiern und sollen ihr Zuhause nur verlassen wenn es notwendig ist.
Aus dem „Islamischen Staat“ gibt es auch Berichte von Sklaverei und Frauenhandel. So wurden beispielsweise gefangene jesidische Frauen verkauft und zwangsverheiratet. Öffentliche Versammlungen, die nicht von IS selbst sind, werden verboten. Es gibt öffentliche Predigten, mit denen versucht wird, die Bevölkerung zu indoktrinieren. Im Bildungssystem wurde alles mögliche Weltliche aus dem Unterricht gestrichen, aber auch andere Fächer, wie zum Beispiel Musik. Das hatte die Folge, dass viele Kinder von ihren Eltern von der Schule fern gehalten wurden, um sie nicht der islamistischen Erziehung auszusetzen.
Angeblich setzt das Kalifat auch auf gewisse soziale Maßnahmen, um die Bevölkerung für sein Anliegen zu gewinnen. Somit müssen Reiche anscheinend Solidaritätsbeiträge leisten, Kämpfer*innen werden bezahlt und es wird versucht Strom- und Wasserversorgung sicher zu stellen. Andersgläubige oder „Ungläubige“ werden entweder vertrieben oder sie müssen eine Art „Ungläubigen-Steuer“ zahlen. Prinzipiell wird den „Gottlosen“ aber der Kampf angesagt, Minderheiten wie etwa die Jesid*innen sind beispielsweise von Völkermord bedroht.
Darüber hinaus gibt es Patrouillen, die die Einhaltung der Vorschriften kontrollieren. Diese religiöse Polizei, die das alltägliche Leben kontrolliert und die man vielleicht am besten als „Religionswächter“ bezeichnen kann, machen dieses Regime in gewisser Hinsicht totalitär.
Finanzierung
Es gibt einige Wege, über die sich IS finanziert. Einen davon haben wir oben schon erwähnt, die 429 Mio. Dollar aus der Bank von Mossul. Andererseits erhebt die Organisation natürlich auf den von ihr kontrollierten Gebieten Steuern ein. Zusätzlich dazu gehen Schätzungen davon aus, dass IS täglich über eine Millionen Dollar durch Öl-Verkauf über die Türkei einnimmt. In den Golfstaaten gibt es vermutlich finanzstarke Privatpersonen, die die Organisation unterstützen. Auch gegenüber Katar und Saudi-Arabien besteht der Verdacht, die Gruppe unterstützt zu haben. Darüber hinaus gibt es entsprechende Vorwürfe gegenüber dem türkischen Staat. Dementsprechend sollen islamistische Kämpfer, Waffen und Munition über die türkische Grenze gelassen worden sein, während kurdische Unterstützung blockiert wird. Diese Vorwürfe lassen vermuten, dass IS auch als Spielball regionaler Mächte benutzt wird.
Klassencharakter
So sehr das islamistische Regime auch gegen den Imperialismus hetzt und über islamische Solidarität Hilfe für Arme predigt, kann es in keinster Weise im Interesse der Arbeiter*innenklasse und des Kleinbürger*innentums sein. Es propagiert die staatliche Gemeinschaft aller Muslime, die klassenübergreifend existieren soll. In dieser „Gemeinschaft“ gibt es auch keinen Platz für die unabhängige Organisation des Proletariats zu seinem Interesse. Statt dessen werden in Unternehmen regimetreue Manager eingesetzt, die den Ablauf der Produktion nach religiösem Gutdünken regeln, letztendlich aber auch nur Handlanger des Kapitals unter religiösem Schleier sind. Die Einhaltung all dieser Regelungen wird durch schwer bewaffnete Milizen umgesetzt, unter drakonischer Bestrafung bei Widerstand.
Im Bürgerkrieg stellt sich IS gegen so gut wie alle anderen Oppositionsgruppen. Minderheiten, oder andere religiöse Gruppen, sogar schiitische Muslime und Muslimas werden verfolgt. Alle demokratischen und viele fortschrittliche kulturelle Errungenschaften werden vernichtet, wie etwa die ausdrückliche Feindschaft gegenüber Kurdinnen und Kurden zeigt. Kurz, IS steht im Gegensatz zu gesellschaftlichem Fortschritt und damit auch im Gegensatz zu sozialistischen und freiheitlichen Bestrebungen.
Der Angriff von IS auf demokratische Rechte, unabhängige Organisation, terroristische Durchsetzung der Ziele, Feindschaft gegenüber Andersgläubigen und Minderheiten, macht die Organisation zu einer religiösen, islamischen Form des Faschismus, der sich militärisch ermächtigen konnte. Ihr Vormarsch ist die konterrevolutionäre Antwort auf den gescheiterten arabischen Frühling, ohne sich in dieser Rolle mit den Regimen zu solidarisieren, gegen die sich die revolutionären Erhebungen richteten. Die fehlende revolutionär-sozialistische Führung in diesen Revolutionen hat wesentlich zu ihren Niederlagen in fast allen Ländern beigetragen. Die Zersplitterung, Schwächung und Demoralisierung der fortschrittlichen Kräfte im syrischen Bürgerkrieg hat der Reaktion das Feld eröffnet. Dieser Form des terroristischen Faschismus kann die Arbeiter*innenklasse in allen Ländern nur mit Hass begegnen.