Bericht der Bosnien-Solidaritätsdelegation

solidaritybosnia

Es lebe der Kampf der arbeitenden Klasse in Bosnien

Nachdem wir über die Ereignisse in Bosnien erfahren hatten, entschieden wir uns kurzerhand, eine kleine Solidaritätsdelegation nach Bosnien zu schicken, um uns ein Bild der Lage zu machen, Kontakte zu knüpfen und die Bewegung auch praktisch zu unterstützen. Im Vorfeld bemühten wir uns, Kontakte zur bosnischen Linken aufzubauen und es gelang uns, ein Treffen mit einem Aktivisten von Ljeva („Linke“) zu arrangieren.

Das ausführliche Gespräch mit ihm gab uns einen vertieften Einblick einerseits in die aktuellen Proteste, andererseits in die allgemeine politische Situation in Bosnien. Die wirtschaftliche Situation im Land ist sehr schlecht, die Arbeitslosigkeit so hoch, wie kaum anderswo in Europa (44%, Jugendarbeitslosigkeit 58%). 20% der Bevölkerung leben in Armut. Die sozialen Proteste wurden von Gewerkschaften in Tuzla gegen die Entlassung von 10.000 Arbeiter*innen initiiert und sind seitdem auch von linken Kräften dominiert, die etablierten bürgerlichen Parteien versuchten bis jetzt vergeblich, die Proteste für sich zu nutzen. Auch der Versuch der lokalen Eliten, den Protest nach ethnischen Linien zu spalten, zeigte bis jetzt keine Wirkung. Ein beliebter Spruch bei der Bevölkerung ist: „Der Krieg hat uns getrennt, die Armut hat uns wieder vereint.“ Leider ist die Linke in Bosnien nicht besonders stark. Außer Ljeva, die nur in Sarajevo und Tuzla aktiv ist, gibt es keine relevanten linken Kräfte.

Nichtsdestotrotz kam es in mittlerweile wahrscheinlich einem Dutzend Städten (darunter Sarajevo, Tuzla, Mostar, Zenica, etc) zur Bildung von Plena der an den Protesten beteiligten Jugendlichen, Arbeiter*innen und Rentner*innen. Die Beteiligung an diesen Versammlungen ist sehr rege. In Sarajevo zum Beispiel nehmen regelmäßig um die 1.000 Menschen an den dort geführten Diskussionen teil. Zurzeit sieht es so aus, als ob der Fokus der Bewegung weg von den militanten Protesten (eine beliebte Protestform, die auch in Sarajevos Stadtbild sehr offensichtlich zu Tage tritt, war das Anzünden von Regierungsgebäuden) hin zur Selbstorganisationg in örtlichen Versammlungen. Als wir auf unserer ersten Demonstration ankamen, wurden gerade die Forderungen des Plenums von Sarajevo an die Regierung verlesen und der Regierung wurden 72 Stunden gegeben, um den Forderungen nachzukommen. Das Plenum verlangte:

  • Einrichtung einer Regierung aus Expert*innen;
  • Prüfung der Gehälter und Bezüge von Inhaber*innen öffentlicher Ämter im Kanton Sarajevo;
  • Prüfung der Privatisierungen;
  • Bildung einer unabhängigen Fakten-Findungs-Kommission, zusammengesetzt aus gewählten Delegierten des Sarajevoer Bürger*innenplenums, um die Ereignisse des 7. Februar zu untersuchen. Die Kommission soll ein Inventar und eine Schätzung des Schadens aufstellen, sowie die Verantwortung der Polizei für den Gebrauch von exzessiver Gewalt und den Missbrauch von Verhafteten klären;

Mittlerweile wurden die Forderungen angenommen. Das zeigt, welch große Macht das Plenum entfalten kann, aber auch gleichzeitig, dass die bürgerliche Staatsmacht sich nicht unmittelbar von den Plena in ihrer Macht bedroht fühlt. Das soll nicht heißen, dass die Massenversammlungen nicht auch eine ernsthafte Bedrohung darstellen könnten. Immerhin versammeln die Plena wirklich eine große Masse an Leuten, doch zur Zeit ist die Politik der Plena noch im kapitalistischen Rahmen gefangen. Hinzu kommt, dass die Plena (noch) keine in Betrieben verankerten, räte-ähnlichen Strukturen sind – und somit noch keine Form wirklich organisierter Gegenmacht darstellen. Falls sich die Massen durch eine weitere Eskalation der Lage radikalisieren, könnte sich die Regierung (oder auch die noch immer im Land stationierten UN/EUFOR-Truppen) gezwungen sehen, gegen die Plena vorzugehen. In jedem Fall aber geht es darum, für die politische Ausrichtung der Plena in eine sozialistische, revolutionäre Richtung einzutreten und dafür, dass sie zu landesweit koordinierten, auf Wähl- und Abwählbarkeit beruhenden Delegierten- und Kampfstrukturen werden.

Während die Protestbewegung dezidiert gegen den Nationalismus gerichtet ist (und das in einem Land, in dem vor 20 Jahren noch ethnische Säuberungen durchgeführt wurden), versuchen die Eliten der verschiedenen Landesteile (also dem serbischen Teil der Republika Srpska und dem bosnisch-kroatischen Teil der „Föderation“), die Proteste entweder zu diffamieren oder zu instrumentalisieren. Von vielen Nationalist*innen werden Gerüchte und Verschwörungen über die Proteste verbreitet. Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, meinte zum Beispiel, dass die Proteste von bosniakischer Seite finanziert werden, um seinen Landesteil zu destabilisieren. Weiter betonte er, dass die Republika Srpska stabil bleiben würde.

Mittlerweile kam es aber auch in den serbischen Landesteilen zu Protesten, unter anderen in der Hauptstadt der Republika Srpska, Banja Luka. Auch in anderen Teilen Ex-Jugoslawiens (Kroatien, Serbien, Mazedonien) wurden Demonstrationen in Solidarität mit den Protesten in Bosnien veranstaltet, was ein Hinweis darauf ist, dass die Arbeiter*innen und Jugendlichen immer enttäuschter sind von den nun schon seit langem an der Macht befindlichen nationalistischen Parteien, die als bürgerliche Parteien nichts ändern an den wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Region.

Die Proteste in Bosnien erschüttern das von westlichen Medien geprägte Bild von sich bis auf den Tod verfeindeten rückschrittlichen Nationen am Balkan und geben Hoffnung, dass sich in Ex-Jugoslawien der Fokus weg von der Frage nach Nationen und hin zur Frage von Arm und Reich bewegt.