Warum wir nicht alle im selben Boot sitzen: Soziale Unterdrückung und Krise

Krise – ein allgegenwärtiges Wort. Klimakrise, Wirtschaftskrise, Coronakrise: Wir haben uns schon fast daran gewöhnt. Krisen und ihre Auswirkungen werden uns als Naturereignisse präsentiert, sie sind angeblich unvermeidbar und treffen alle Menschen gleichermaßen. Doch das trifft nicht einmal auf Naturereignisse wie Hochwässer oder Tornados wirklich zu – denn diese werden in einem System in, dem Profite wichtiger sind als Umwelt oder Klima, zwangsläufig verschärft. Die Profite werden durch Ausbeutung der Mehrheit der Menschen, die sozial Unterdrückte wie beispielsweise Frauen, rassistisch unterdrückte oder LGBTQIA-Personen, überdurchschnittlich stark trifft, und auf Kosten der Natur gemacht.

Die zehn reichsten Männer der Welt konnten ihr Vermögen während der Pandemie verdoppeln. Gleichzeitig haben mindestens 13 Millionen Frauen Arbeit und Einkommen verloren. Über 20 Millionen Mädchen werden aufgrund der Schulschließungen nie wieder eine Schule besuchen. Während des von Inflation geprägten Jahres 2022 haben 95 Lebensmittel- und Energiekonzerne ihre Gewinne mehr als verdoppelt, 84 Prozent der 306 Milliarden US-Dollar Übergewinne wurden an Aktionär*innen ausgeschüttet. Die Reichen werden also immer reicher, auch und gerade während Krisen, während die Armen immer ärmer werden. Durch Steuergeschenke und Förderungen während Krisen und Steigerung von Profiten durch Preissteigerungen oder Verschlechterung von Arbeitsbedingungen ist das für bürgerliche Regierungen ein Leichtes.

Die Ersten, die während Krisen ihre Jobs verlieren, sind prekär Beschäftigte. Darunter verstehen wir Menschen ohne reguläre Anstellung und damit ohne Absicherungen wie Kündigungsfristen, wie zum Beispiel freie Dienstnehmer*innen, Scheinselbstständige und Schwarzarbeiter*innen. Aber auch Teilzeitbeschäftigte und Hilfskräfte trifft es meist vor Facharbeiter*innen und natürlich vor Manager*innen.

Diese Art von Jobs wird immer noch mehrheitlich von sozial Unterdrückten übernommen – insbesondere von rassistisch Unterdrückten, Frauen, inter- und trans Personen und Menschen mit Behinderung. Über 70% der Menschen, die 2022 ihre Jobs verloren hatten, sind weiblich.

Doch nicht nur Jobverlust aufgrund von Kündigungen ist ein Damoklesschwert, das während Krisen über den Köpfen von sozial Unterdrückten schwebt. Immer noch wird der Großteil der bezahlten und unbezahlten Betreuungs- und Pflegearbeit von sozial Unterdrückten übernommen. In den eigenen vier Wänden sind es meist Frauen, die sich um Kinder und pflegebedürftige Angehörige kümmern. Während der Pandemie und der damit kaum noch existenten öffentlichen Kinderbetreuung waren es hauptsächlich Frauen, die im Homeoffice gleichzeitig Arbeiterin, Haushälterin, Lehrerin, Kindergärtnerin und vieles mehr sein mussten. Die massive psychische und physische Belastung, die das mit sich bringt, muss hier wohl kaum ausgeführt werden. Wer es sich leisten konnte, versuchte die Belastung zu reduzieren – zum Beispiel, indem die Frau die Lohnarbeit aufgab (sofern sie ihren Job noch nicht verloren hatte). Reiche Familien konnten es sich leisten, diese Arbeiten weiterhin oder verstärkt auszulagern.

Das Zurückdrängen in den Haushalt birgt noch weitere Gefahren. Studien beweisen, dass während Krisen, beispielsweise der Finanzkrise 2008/09, häusliche Gewalt zunimmt. Während der Lockdowns der Corona-Pandemie kam als erschwerender Faktor hinzu, dass die gesamte Familie/Wohngemeinschaft quasi permanent zuhause zusammengesperrt war. Die soziale Isolation wird in Fällen von Jobverlust noch verschlimmert. Gleichzeitig wird in jeder Krise wirtschaftliche Abhängigkeit verschärft und damit das Entkommen aus Gewaltbeziehungen massiv erschwert. Häusliche Gewalt trifft vor allem nicht männliche Personen und Menschen mit Behinderung.

Gleichzeitig treffen Krisen besonders stark solche Branchen, in denen mehrheitlich sozial unterdrückte Menschen arbeiten. In Pflegeberufen beispielsweise sind die Beschäftigten überwiegend weiblich und viele rassistisch unterdrückt. Diese Branche hatte unter der Pandemie zu leiden wie keine andere. Doch die Pandemie hat nur Missstände noch stärker aufgezeigt, die schon lange bekannt waren. Personalmangel und Überlastung gehören zum Alltag, viele Arbeiter*innen schaffen den Job nicht lange, obwohl sie ihn eigentlich lieben – aber nicht zu diesen Bedingungen. Die Lösungsstrategie der Regierung ist es, Menschen aus anderen Ländern nach Österreich zu holen, die aufgrund der Situation in ihren Herkunftsländern bereit sind, zu miesen Bedingungen in Österreich zu arbeiten – eine imperialistische Lösung, die nicht über den eigenen Tellerrand hinausschaut. Der Pflegemangel, der dadurch in den Herkunftsländern entsteht bzw. verschärft wird und was das für die medizinische Versorgung in diesen Ländern bedeutet, interessiert die österreichischen Politiker*innen kein bisschen. Die Tatsache, dass diese Menschen dann in Österreich rassistisch unterdrückt werden, kommt ihnen sogar entgegen. An dieser Stelle sollte auch hervorgehoben werden, dass sozial Unterdrückte unter schlechterer medizinischer Versorgung leiden und damit eine weitere Verschlechterung sie am stärksten trifft – Nicht nur, aber ganz besonders in Ländern, wo medizinische Versorgung stark privat bezahlt werden muss. Die finanzielle Benachteiligung ist bei weitem nicht der einzige Grund. Die medizinische Forschung und Ausbildung stellt weiterhin weiße Männer, die als solche geboren wurden, in den Mittelpunkt, das medizinische Personal ist im Umgang mit z.B. neurodivergenten Menschen meist unzureichend geschult und teilweise auch unwillig. Doch seit Jahren rumort es in der Pflege. Und auch wenn die Gewerkschaft immer wieder auf die Bremse steigt, wollen die Beschäftigten nicht mehr unter diesen Bedingungen weiterarbeiten.

Ein weiterer Bereich, der stark weiblich geprägt ist, ist der Bildungs- und Betreuungssektor. Vom Kindergarten bis zur AHS herrscht konstanter Personalmangel. Wer darunter leidet, sind die Kinder und Jugendlichen – und die Beschäftigten. Kein Wunder, dass es hier ähnlich ausschaut wie in den Pflegeberufen: Arbeiter*innen steigen vorzeitig aus dem Beruf aus, die Regierung denkt nicht an Verbesserungen, sondern übt sich in kreativen Lösungsvorschlägen wie z.B. Soldat*innen als Lehrkräfte zu rekrutieren und pensionierte Lehrer*innen aus dem wohlverdienten Ruhestand zurück zu bitten. Gleichzeitig planen sie immer neue Gesetzesreformen, um den Unmut weiter zu schüren wie die Abschaffung der Freizeitpädagog*innen, die Anfang Juni zu berechtigten und starken Protesten geführt hat.

Zusätzlich wurden die Zukunftschancen ganzer Jahrgänge durch schlechtere Bildung während der Lockdowns reduziert. Am stärksten traf es Kinder und Jugendliche aus armen Familien mit zu wenig Computern und jene mit Eltern mit niedrigen Bildungsabschlüssen.

Ein weiteres Beispiel für einen prekären Sektor, der von sozial Unterdrückten getragen wird, ist der Bereich der Lieferant*innen. Ob Pakete oder Essen, die Zusteller*innen sind großteils männlich, rassistisch unterdrückt und massiv prekär beschäftigt. Auch ihre Wichtigkeit und Arbeitsbedingungen wurden während der Pandemie stärker ins öffentliche Bewusstsein gebracht, nur leider ohne, dass es zu Verbesserungen führte. Erst vor wenigen Wochen wurde ein Großstreik bei UPS in den USA knapp verhindert, bei Amazon in Deutschland wurde im Juli gestreikt. In Österreich wurde 2022 der erste Kollektivvertrag für Essenslieferant*innen abgeschlossen, doch das darf nur der Anfang und nicht das Ende des Kampfes sein. Solche Proteste und Maßnahmen sind wichtig, aber sie können nur der Anfang sein, denn immer noch sind die Arbeitsbedingungen unzumutbar.

Die Gewerkschaften haben diese Branchen entweder systematisch verraten – wie die Pflege – oder sie scheitern immer noch an einer ernsthaften Orientierung (sofern sie es überhaupt versuchen). Die Gewerkschaften sind aber, trotz allen Vorwürfen, die man der österreichischen Gewerkschaftsbürokratie machen kann, ein hart erkämpftes und mächtiges Kampfinstrument für die Arbeiter*innenklasse. Deswegen müssen wir, trotz berechtigter Frustration, die Gewerkschaften zu Organisierungskampagnen in jenen Branchen auffordern und gleichzeitig versuchen, mit der Gewerkschaftsbasis zu kämpfen und uns dieses Instrument zurückzuholen.

Die Klimakrise ist die größte Herausforderung unserer Zeit und eine Herausforderung, die in einem profitorientierten System wie dem Kapitalismus nicht bewältigt werden kann. Hitzewellen und Hochwässer treffen uns bereits in Österreich. Doch die am schlimmsten betroffenen Regionen, z.B. Somalia und Niger, gehören zu einem Gutteil zu den ärmsten Ländern der Welt. Menschen, die von dort vor Hunger und unmenschlichen Lebensbedingungen fliehen, werden in Österreich und der EU rassistisch unterdrückt. Doch auch wenn sie vor Ortbleiben, sieht für sozial Unterdrückte wie Frauen und Menschen mit Behinderung die Lage besonders schlecht aus. Sie werden durchschnittlich später vor Naturkatastrophen gewarnt, können seltener schwimmen und wenn sie unter Verletzungen oder Krankheiten leiden, erhalten sie schlechtere medizinische Versorgung.

Die Lage von sozial Unterdrückten in Krisenzeiten ist also finanziell, beruflich, privat und gesundheitlich merklich verschärft. Das trifft in einem kleinen Land wie Österreich zu, ist aber auf globaler Ebene noch relevanter, wo der Großteil der Bevölkerung in ärmeren Ländern massiv betroffen ist, und die dort lebenden sozial unterdrückten Gruppen umso mehr.

Die Frage, die sich jetzt natürlich aufdrängt, ist, warum ist das eigentlich so? Warum treffen soziale und wirtschaftliche Krisen im Normalfall ohnehin schon sozial Unterdrückte Menschen stärker? Auf der einen Seite ist ein wichtiges Element hier bestimmt die politische Hetze, in der migrierende Menschen zu Sündenböcken  werden. Wenn sich ein großer Teil der Arbeiter*innenklasse vor allem daran stört, dass ein anderer Teil der Arbeiter*innenklasse ihnen angeblich die Jobs wegnimmt, ist es natürlich deutlich unwahrscheinlicher, dass sich der Unmut gegen die eigentlichen Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft richtet. Das alleine erklärt aber noch nicht notwendigerweise und unmittelbar alle Verschlechterungen wie beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt.

Hier spielt insbesondere die Tatsache, dass sozial Unterdrückte Menschen sich im Normalfall in deutlich prekäreren Beschäftigungsverhältnissen befinden, eine wesentliche Rolle. Das hat nicht immer dieselbe Ursache. Bei Frauen ist hier beispielsweise der dominante Faktor, dass aufgrund von Betreuungspflichten (ob für Kinder oder alte Menschen) eine flexiblere Anstellung notwendig ist. Hingegen liegt für Menschen ohne Staatsbürger*innenschaft oder sogar Aufenthaltsrecht der Grund oft darin, dass sie rechtlich nicht offiziell angestellt werden können und sich deshalb in informellen und damit auch deutlich leichter lösbaren Arbeitsverhältnissen befinden. Für Chef*innen ist es auch im Allgemeinen leichter, sozial unterdrückte Menschen zu entlassen, weil sie ohnehin auch einer gesamtgesellschaftlichen Unterdrückung unterworfen sind und deshalb weniger Möglichkeiten haben sich zu wehren – die schlechten gewerkschaftlichen Organisierungsraten sind hier auch alles andere als hilfreich.

Zu guter Letzt gibt es aber auch einen ideologischen Faktor. In einer Situation der Krise gibt es einen starken Impuls der herrschenden Klasse auf eine Rückbesinnung auf eine Periode, in der ihr System nicht in der Krise war. Wenn es jetzt schlecht läuft, warum soll man dann nicht einfach so handeln wie früher, als es keine Krise gab? Diese Form des Reagierens auf eine soziale oder wirtschaftliche Krise ist grundlegend und umfassend konservativ (sprich erhaltend) bis reaktionär (sprich zurückgehend). Diese Form der Ideologie ist natürlich nicht ausschließlich auf die herrschende Klasse beschränkt und unterschiedlich stark in fast allen gesellschaftlichen Schichten und Klassen vertreten, spielt aber insbesondere in der herrschenden Klasse des Spätkapitalismus eine wichtige Rolle. Für Marxist*innen ist offensichtlich, was die inhaltlichen Probleme bei dieser ideologischen Tendenz sind. Auf der einen Seite ist es nicht möglich, die gesellschaftlichen Umstände einfach zurückzudrehen, ein simples Zurück in die Zukunft ist nicht möglich weil sich die materiellen und ideologischen Umstände nicht zurücknehmen lassen. Aber selbst, wenn es möglich wäre die gesellschaftlichen Umstände in der Zeit zurückzudrehen, würde das ja nur bedeuteten, dass die Ursache der jeweiligen Krise immer noch vorprogrammiert ist. Eine wirkliche Lösung der Krise kann nur in einer fortschrittlichen Auflösung bestehen, die nicht nur die Krise als solche lösen kann, sondern auch die Umstände, die das System in die Krise gebracht haben, gleichzeitig abschafft – alles andere wäre Sisyphus-Arbeit.

Unsere stärkste Waffe als Ausgebeutete und Unterdrückte in Situationen der Krise und der Verschärfung der Ausbeutung ist die Solidarität. Solidarität bedeutet mehr als nur kein Arschloch zu sein und es gut zu finden, wenn es den eigenen Mitmenschen nicht allzu schlecht geht. Solidarität bedeutet anzuerkennen, dass ein Kampf für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen bei Reinigungskräften oder Paketzusteller*innen für uns alle wichtig ist. Wird er gewonnen, werden andere Sektoren gezwungen sein mitzuziehen – doch selbst, wenn er erfolglos endet, können wir Lehren für zukünftige Kämpfe ziehen. Solidarität bedeutet auch anzuerkennen, dass all jene Menschen, die nicht von der Ausbeutung anderer leben, von einem Systemwechsel profitieren würden, ganz unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, usw. Gegen diese Unterdrückung aufzustehen um als Arbeiter*innenklasse vereint das zerstörerische kapitalistische System zerschlagen zu können, ist also kein Akt der Selbstlosigkeit – es ist einfach solidarisch. Diese Erkenntnis, „alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx) ist notwendig nicht aus moralischen Gründen der Nächstenliebe, sondern weil sie ein wesentlicher Bestandteil eines revolutionären Klassenbewusstseins ist – und nur damit können wir die Befreiung aller erkämpfen!