Griechenland: Interview mit Voula Taki

Voula Taki ist eine griechische Genossin, die den „Frauentreffpunkt“ in Thessaloniki gegründet hat. Die Frauen haben u. a. Flüchtlinge in Thessaloniki und Idomeni betreut und aufgenommen. Sie ist auch Mitorganisatorin der Weltfrauenmärsche und hat in diesem Rahmen hat sie auch Syrien/Kobanê besucht.

Die Jugendorganisation REVOLUTION, Arbeiter*innenstandpunkt und das Komitee „Solidarität für den Widerstand in Griechenland“ organisierten im Juni eine Veranstaltung in Wien, auf der Voula über das Flüchtlingsdrama in Griechenland und die Arbeit des Frauentreffpunktes ausführlich berichtete. Mit Voula hat Günter Schneider vom AST gesprochen.

Das Interview wurde vom AST übersetzt und gekürzt. Die Aussagen unserer Interviewpartner*innen stimmen nicht zwangsläufig mit den Positionen des Arbeiter*innenstandpunkt überein.

Arbeiter*innenstandpunkt: Wie ist die Situation der Arbeiter*innenklasse in Griechenland nach fünf Jahren Klassenkampf und Widerstand?

Voula In den letzten Jahren erlebten wir alle die Konsequenzen einer langen und tiefen Krise des Kapitalismus.

Die Barbarei die sich in Europa und der ganzen Welt ausbreitet ist Ergebnis dieser Krise: Brutalität, Ausbeutung, Unterdrückung und Freiheitseinschränkungen sind nur einige Erscheinungsformen der Handlungen des kapitalistischen Systems das einen Neuanfang versucht, indem es die breite Masse der Bevölkerung ausraubt und zerstört.

In den letzten fünf Jahren zerstörte die Regierung unseres Landes nach Anweisungen von IWF, EZB und EU alle unsere Rechte in einer Nacht – im Namen der Schulden.

Die Arbeitslosigkeit beträgt 30% gesamt, 60 % bei Jugendlichen und 63% bei den jungen Frauen.

Wir haben tausende Selbstmorde.

Aber die gravierendsten Probleme sind: 1) Der Verkauf des öffentlichen Gesundheitswesens und 2) dass alle sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche der Arbeiter*innen durch die im Mai beschlossenen Gesetze zurückgenommen wurden (Gehälter, Pensionen, Ausgaben für Gesundheit und Bildung werden automatisch durch Präsidentschaftserlässe gekürzt [wenn die Verschuldung einen bestimmten Prozentsatz in Relation zum BIP erreicht, tritt die automatische Kürzung in Kraft – Anmerkung der Redaktion] ).

Wie ist die momentane Situation von SYRIZA? Die Wahl im September war Resultat des Versagens von SYRIZA, weil SYRIZA die Logik der neoliberalen und neokonservativen Führung akzeptierte und auf undemokratische Weise das OXI (Nein) der Arbeiter*innen und Jugendlichen beim Referendum im letzten Sommer in ein JA umwandelte.

Die griechische Bourgeoisie und die europäischen Imperialist*innen wollten die politische Szene neu gestalten, um ein drittes Memorandum und andere Sparmaßnahmen zu realisieren.

Die Illusionen mancher Leute in Bezug auf das Potential von Verhandlungen mit Kapital und EU, ohne Kämpfe und Bruch mit den Grundlagen deren Vorherrschaft, nämlich den Schulden und den EU Regeln, lösten sich bald in Luft auf.

Die SYRIZA-ANEL Regierung hat ein dauerhaftes Memoranden-Regime errichtet, ein „Abkommen“ zwischen dem griechischen Kapital, dessen politischen System und dem imperialistischen europäischen Zentrum.

Die Politik der SYRIZA-ANEL Regierung ist eine Politik gegen die Arbeiter*innen und soziale Bewegungen. Sogar jetzt noch bezeichnet sich SYRIZA als linke Partei und spricht im Namen des Kommunismus, was der linken Ideen schadet und neofaschistische Tendenzen stärkt. Es lässt jede progressive Perspektive unmöglich erscheinen und bestärkt die Logik von „es gibt keine Alternative“.Mit dem neoliberalen Statement „alle zusammen können wir“ und „Gleichheit in Armut für alle Menschen“ lässt Syriza Profite und kapitalistisches Eigentum unberührt.

Die Menschen sind sehr enttäuscht, weil die Mehrheit von ihnen an SYRIZA geglaubt und für sie gestimmt hat, in der Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte. Und jetzt, nach diesen Gesetzen mit automatischen Kürzungen, Steuern und Privatisierungen stehen die Menschen unter Schock und viele von ihnen sind innerlich sehr wütend.

AST: Wie schätzt du die Lage von linken Strömungen und Gruppierungen in Griechenland ein?

1) LAE:

Die Umwandlung von SYRIZA zu einer Partei die für das Memorandum stimmte war der Grund für die Spaltung und die Gründung von LAE, was erst einmal positiv ist. Doch fehlt jegliche Selbstkritik bezüglich folgender Themen: a) was taten sie in den letzten Jahren in SYRIZA, ihre Verantwortung für SYRIZAs Transformation, b) der Unterstützung für Tsipras bei der Nominierung eines Mitglieds einer rechten Partei bei der Präsidentschaftswahl, c) die Unterstützung von Tsipras bezüglich der Vereinbarung vom 20. Februar 2015 mit der Eurogruppe, d) die Unterstützung von Tsipras bis zu den letzten Wahlen.

2) KKE:

Sie verweigert ein Programm, dass zu einem Bruch mit der herrschenden Klasse führen würde. Sie verweigert das dringende Thema eines Bruchs des Landes mit der europäischen Austeritätspolitik zu behandeln (ihre charakteristische Herangehensweise an das JA/NEIN beim letzten Referendum war Enthaltung). Sie verweigert den Aufbau einer antiimperialistischen und antikapitalistischen Front auf Grundlage eines Übergangsprogramms mit dem Ziel die Verhältnisse zu ändern und den Weg zum Sozialismus zu ebnen. Sie weigert sich, die Kräfte der Arbeiter*innen für entscheidende Kämpfe zu vereinen (sie machen eigene Demonstrationen und Aufmärsche) und verweist auf die unbestimmte Zukunft der Volksmacht.

3) ANTARSYA

Es handelt sich um eine politische Koalition von antiimperialistischen und antikapitalistischen Kräften der radikalen Linken. Sie ist außerhalb des Parlaments.

Das antiimperialistische Programm von ANTARSYA ist eine klare Antwort auf das soziale und politische Dilemma und die lautet: entweder den Memoranden und der kapitalistischen Barbarei untergeordnet zu werden oder für einen antiimperialistischen Umsturz zu kämpfen.

Einige Positionen dieses Programms:

Nicht-Anerkennung und Streichung der Schulden, die nicht von der Bevölkerung herbeigeführt wurden. Das Geld soll verwendet werden für die Bedürfnisse der Menschen und wirtschaftliche Regeneration des Landes.
Austritt aus Euro und EU.
Verstaatlichung aller Banken und großer strategischer Unternehmen (Energie, Telekommunikation, Transport, etc.) ohne Vergütung und Leitung unter Kontrolle der Arbeiter*innen und der Bevölkerung.
Zerschlagung von Faschismus und Rassismus.

ANTARSYA hat einen entscheidenden Beitrag zu den Kämpfen der letzten fünf Jahre geleistet.

Aber ANTARSYA hat – bis jetzt – mehr aktivistische Charakteristika als jene einer politischen Partei. Außerdem konnten sie, obwohl sie viele Stimmen innerhalb der Gewerkschaften von der Basis bekamen, diese bisher nicht in politische Stimmen umwandeln.

Über die Situation der Arbeiter*innen- und sozialen Bewegung können wir sagen, dass obwohl die SYRIZA-ANEL Regierung weiterhin die Unterstützung des herrschenden Systems hat, die politische Lage instabil bleibt und die Möglichkeit eines Gegenangriffes der Arbeiter*innen- und sozialen Bewegung besteht, weil:

Als der Sozialversicherungs-Gesetzesentwurf veröffentlicht wurde, waren Streiks und Demonstrationen der Freischaffenden und Bauern und dann der Arbeiter*innen im privaten und öffentlichen Sektor die Antwort darauf, mit dem Höhepunkt des Streiks am 4. Februar. Dieser Kampf hätte ausgeweitet werden und einige politische Charakteristika annehmen sollen – in Anbetracht der Chance für den Wiederaufbau einer Arbeiter*innenbewegung. Aber die Haltung des Griechischen Gewerkschaftsbunds (GSEE) und seines Äquivalents im öffentlichen Sektor ADEDY – die so bürokratisch weitermachen wie bisher und schon vor Jahren aufgehört haben zentrale Kämpfe für Arbeiter*innenrechte zu führen – und auch die Deeskalation der Mobilisierung auf dem Lande, wofür die Mitglieder der kommunistischen Partei verantwortlich sind, gaben der Regierung Zeit den Angriff zu organisieren und all diese Maßnahmen bezüglich Sozialversicherung, automatischen Kürzungen, Steuern und Privatisierungen zu beschließen.

Ein anderer wichtiger Faktor bezüglich der Instabilität im politischen System ist die Krise der EU, insbesondere nach dem Resultat des Referendums in Großbritannien für einen EU-Austritt.

Ich glaube, um die Antwort auf die Frage abzuschließen, dass es eine Initiative der linken Parteien und linken Bündnisse aus allen europäischen Ländern braucht, die alle zusammen eine NEIN-Front aufbauen gegen die Erpressung von EU, EZB und IWF, die mit Einsparungspolitik und Memoranden unsere Leben zerstören.

Wie ist die Situation von Migrant*innen und Flüchtlingen in Griechenland, speziell in Idomeni? Wie wirkt sich der Deal zwischen EU und Türkei und die Schließung der Balkanroute auf deren Lage aus?

Voula: In Griechenland befinden sich derzeit über 57.000 Flüchtlinge, die Mehrheit – ca 51% – sind Kinder. Vom ersten Moment an standen Forderungen bezüglich Migration auf unserer Tagesordnung und als Frauensolidaritätshaus kämpften wir gemeinsam mit anderen Solidaritätsbewegungen und Initiativen für Flüchtlinge. Die Forderungen lauten: Kein Krieg – um das Mittelmeer zu einem Meer des Friedens und nicht einem nassen Grab für Flüchtlinge/Migrant*innen zu machen, keine Zäune – offene Grenzen und sichere Routen für Flüchtlinge/Migrant*innen, keine Camps/Gefängnisse,kein Faschismus und keine faschistischen Attacken. Speziell fordern wir Schutz für junge weibliche Flüchtlinge die von sexueller Gewalt bedroht sind und von Kindern ohne Familie, die alleine reisen. Wir fordern dies nicht nur von der griechischen Regierung sondern auch von den Regierungen anderer EU-Staaten und wir rufen alle Bewegungen auf dafür zu kämpfen. Es gibt über 5.000 Kinder ohne Familien in Griechenland und sie bleiben häufig mehrere Tage auf Polizeistationen. Im letzten Jahr wurden tausende minderjährige Flüchtlinge in europäischen Staaten vermisst.

Unglücklicher Weise hat sich die Regierungspolitik gegenüber Flüchtlingen verändert, weg vom „Flüchtlinge Willkommen“ hin zu FRONTEX und NATO in Griechenland. Sie greift Solidaritätsbewegungen auf den Inseln an und schließt Solidaritätsstrukturen, verhaftet Leute die Solidaritätsarbeit leisten (sowohl griechische Staatsbürger*innen, als auch andere). Sie verhafteten Journalist*innen, die versuchten Fotos zu machen, als die Polizei die Flüchtlinge aus den Camps holten.

Die SYRIZA-ANEL Regierung akzeptierte das rassistische und unmenschliche EU-Türkei Abkommen, das die Türkei als sicheren Staat ausweist, die Türkei von Erdogan, der weiterhin kurdische Kämpfer*innen tötet, und führt gewaltsame Abschiebungen in die Türkei durch.

Anstatt menschliche Lebensbedingungen für die Flüchtlinge zu schaffen und ihr Recht auf freie Wahl ihres Zielortes zu respektieren, ließ sie die Regierung unter fürchterlichen Umständen in Idomeni und dem Hafen von Piräus leben und evakuierte schließlich Idomeni mithilfe von Drohungen und Erpressung und transportierte Flüchtlinge in inakzeptable Areale um dort zu leben, weg von der Stadt, isoliert von der Solidarität und Unterstützung von Bewegungen, und verboten schließlich den Solidaritätsbewegungen in die Camps zu kommen um Flüchtlinge zu unterstützen oder mit ihnen zu diskutieren.

Unter diesen Umständen denke ich, dass die Bewegungen der Arbeiter*innen und der Bevölkerung zusammen mit Flüchtlingen/Migrant*innen – nicht nur in Griechenland – sondern in allen europäischen Ländern kämpfen müssen um: die unmenschlichen Abschiebungen sofort zu stoppen, das reaktionäre, rassistische Türkei-EU Abkommen rückgängig zu machen, die Grenzen zu öffnen und freie Wahl des Ziellandes zu gewährleisten, menschliche Lebensbedingungen und vollen Respekt für die Rechte von Flüchtlingen/Migrant*innen zu erreichen und gegen jeden Versuch der Behinderung von Solidaritätsaktionen und Selbstorganisierung von Migrant*innen und Flüchtlingen einzutreten.